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Bertelsmann Stiftung | Die EU als neuer Garant des Sozialen?

Wer die Deutschen nach ihren Erwartungen an den zukünftigen Sozialstaat fragt, trifft auf hohe Zustimmung, aber auch manche Sorgen für das Leben im Alter. Damit unterscheiden sich die Bundesbürger kaum von ihren europäischen Nachbarn. Überraschend aber: Überall wünscht sich eine große Mehrheit der Bevölkerung in sozialen Angelegenheiten eine stärkere Rolle der EU.

Die Bundesbürger machen sich Sorgen über die Leistungen und die Zukunftsfestigkeit des deutschen Sozialstaates, insbesondere mit Blick auf die Renten und die Frage der Altenpflege. Optimistischer sind die meisten dagegen bei den Themen Kinderbetreuung, Bildung, Ausbildung und Leistungen für Arbeitslose. Um auch in Zukunft einen funktionierenden Sozialstaat zu gewährleisten, wäre eine knappe Mehrheit für eine Erhöhung von Steuern und Abgaben statt der Absenkung von Leistungen. Von der EU erwarten sich die Bürger dabei mehr steuernden Einfluss auf sozialpolitische Reformen und finanzielle Solidarität unter den Mitgliedsstaaten. Dies ist das Ergebnis einer vergleichenden Meinungsumfrage in acht europäischen Staaten durch die Bertelsmann Stiftung.

Dabei unterscheiden sich die Deutschen in ihren Einschätzungen und Sorgen nur wenig von ihren europäischen Nachbarn. So blicken die Bürger in allen befragten EU-Staaten mehrheitlich pessimistisch auf die Zukunft des Sozialstaates im Jahr 2050. Überall überwiegt die Sorge beim Thema Rente und Pflege im Alter. In Deutschland befürchten 70%, dass der Sozialstaat die Renten im Jahr 2050 nicht mehr hinreichend garantieren kann. 63% haben diese Befürchtungen bei der Betreuung älterer Menschen. Mit 48% sorgen sich merklich weniger Deutsche um die Leistungsfähigkeit im Gesundheitssystem oder mit 44% um die Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Ein Drittel haben diese Zweifel mit Blick auf die Betreuung von Kindern, deren Bildung und Ausbildung.

Höhere Abgaben oder Leistungsbegrenzungen?

Nahezu unentschieden sind die Bundesbürger bei der Frage der richtigen Balance zwischen Leistungen des Sozialstaates einerseits und den Finanzierungslasten andererseits. Um das Niveau sozialstaatlicher Leistungen auch in Zukunft aufrecht zu erhalten, wäre eine knappe Mehrheit der Bundesbürger bereit, mehr Abgaben und Steuern zu zahlen: 48% sind für diese Variante, während 44% lieber die Leistungen einschränken wollen. Eindeutiger als hierzulande ist die Haltung der Bürger in anderen europäischen Staaten. In Finnland oder in Großbritannien votiert eine Mehrheit im Zweifel für mehr Abgaben und Steuern, um ein Absinken des Leistungsniveaus zu verhindern. Anders hingegen die Bürger in den übrigen Befragungsländern: In Frankreich, Polen, Italien, Belgien und Portugal sind sie mehrheitlich für die Begrenzung von Sozialleistungen statt Abgabenerhöhungen.

Die EU an der Seite der Bürger und Garant des Sozialen

Um soziale Standards zu gewährleisten setzen die Bürger Europas nicht zuletzt auf die EU. In allen befragten Ländern wünschen sich große Mehrheiten von 63% bis 86%, dass die EU verbindliche Mindeststandards zur sozialen Sicherheit für alle Mitgliedstaaten durchsetzen solle. In Deutschland sprechen sich 77% der Befragten dafür aus. Gleichzeitig solle die EU Druck auf einzelne Mitgliedstaaten ausüben, damit diese notwendige soziale Reformen umsetzen. Für diese Forderung sprechen sich überall Mehrheiten von 52% bis 78% aus, in Deutschland sind es 72%. Außerdem solle die EU finanzielle Transfers von reicheren zu ärmeren EU-Mitgliedstaaten sichern. Selbst in den reicheren Nettozahlerstaaten der EU unterstützen diesen Wunsch große Mehrheiten der Bevölkerung. Unter den Deutschen, den größten Nettozahlern der EU, sind es ebenfalls 62%.

Überrascht zeigten sich die Experten der Bertelsmann Stiftung dabei über das hohe Maß an Übereinstimmungen quer durch Europa. Als bemerkenswert stufen sie dabei die hohen Zustimmungswerte in Großbritannien zu einer stärkeren Rolle der EU in der Sozialpolitik ein, vor allem vor dem Hintergrund der Europaskepsis in diesem Land.

Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, folgert aus der Befragung: „Die Bürger haben europaweit die zukünftigen Herausforderungen des Sozialstaates erkannt. Angesichts des demographischen Wandels gelten ihre Sorgen vor allem der sozialen Sicherheit im Alter. Zugleich wünschen sich die Menschen die EU als starken Partner für die soziale Sicherheit und Solidarität. Die EU soll dabei nicht nationale Sozialpolitik ersetzen, sondern die Überlebensfähigkeit der Sozialsysteme und notwendige Reformen garantieren und einen Unterbietungswettlauf zwischen den Mitgliedsländern verhindern.“

Der Wunsch der Bevölkerung nach einer stärkeren Rolle der EU in sozialen Angelegenheiten deckt sich auch mit den Ergebnissen einer jüngeren Befragung der Bertelsmann Stiftung über die Erwartungen der Bürger an die EU insgesamt. Darin sprachen sich knapp 60% der EU-Bürger für eine verstärkte politische und wirtschaftliche Integration der Europäischen Union aus. Als eine der vordringlichen Aufgaben der EU nannten 47% die Verringerung von sozialer Ungleichheit.

Über die Studie:

Die repräsentative europäische Befragung wurde in den Monaten Juli und August 2015 durch TNS Emnid (Bielefeld) durchgeführt. Teilnehmer waren 8.007 Bürger in acht europäischen Ländern. Auftraggeber ist ein Zusammenschluss führender Denkfabriken in diesen Staaten, das Netzwerk „Vision Europe Summit“. Dazu gehören die Bertelsmann Stiftung (Deutschland/Gütersloh), Bruegel (Belgien/Brüssel), Calouste Gulbenkian Foundation (Portugal/Lissabon), Chatham House (Großbritannien/London), Compagnia di San Paolo (Italien/Turin), Jacques Delors Institute (Frankreich/Paris), The Finnish Innovation Fund Sitra (Finnland/Helsinki). Das Netzwerk wurde 2015 auf Initiative der Bertelsmann Stiftung gegründet, um gemeinsam europäische Fragen und Herausforderungen zu bearbeiten. Am 17. und 18. November 2015 wird das Netzwerk in Berlin zu seinem ersten gemeinsamen Vision Europe Summit (VES) zusammenkommen. Das Thema der hochrangig besetzten Konferenz ist die Zukunft der Sozialstaaten in Europa.

Weitere Infos zur Studie:

Eric Thode, Telefon: 0 52 41 81-81 581  E-Mail: eric.thode@bertelsmann-stiftung.de
Katharina Barié, Telefon: 0 52 41 81 81 485  E-Mail: katharina.barie@bertelsmann-stiftung.de

Weitere Informationen finden Sie unter www.bertelsmann-stiftung.de