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FNS | Es bringt nichts, Großbritannien die Tür zuzuschlagen

Großbritannien benötigt zwölf bis sechzehn Wochen, um seine internen Angelegenheiten nach dem Referendum zu regeln. Es wäre kontraproduktiv, wenn die Europäische Union in der Zwischenzeit die Tür zuschlagen sollte, schreibt Sir Graham Watson.

Sir Graham Watson, der ehemalige Präsident der ALDE, über die Zeit nach dem Brexit-Referendum.

Großbritannien folgte Irland, Frankreich und den Niederlanden, indem seine Bürger die Europäische Union in einer Volksabstimmung ablehnten. Wie zuvor war auch das Ergebnis in Großbritannien überraschend, die Regierung nicht darauf vorbereitet und die neue Lage führte zu weiterer Unsicherheit.

Insgesamt stimmten 51,9 Prozent der Briten für einen Austritt ihres Landes aus der EU, 48,1% für einen Verbleib. Dieses durchaus knappe Gesamtergebnis spiegelt sich jedoch nicht in den einzelnen Gemeinden Großbritanniens wider. Meist wurden dort klare und eindeutige Ergebnisse für oder wider einen Austritt verzeichnet; hauchdünne Entscheidungen – wie es des Gesamtergebnis vermuten lässt – waren eher eine Seltenheit. Deshalb spaltet das Endergebnis auch das Vereinigte Königreich als Ganzes. Als Wales Nordirland mit 1:0 in der Europameisterschaft schlug, behaupteten böse Zungen, dies sei bereits das zweite Mal innerhalb von drei Tagen, dass Wales Nordirland aus Europa hinauswerfen würde.

Die Motivation der Wähler bei der Stimmabgabe war vielfältig und variierte. Das Ergebnis kann nicht als einheitlicher Wählerwille erklärt werden, sondern hat viele Gründe. Gegenden mit Geringverdienern stimmten in hoher Zahl für den Austritt aus der EU; Wähler mit höherem Bildungsniveau wollten in der EU bleiben. Ältere und müde gewordene Briten wollten mit ihrem Votum zur ruhmreichen britischen Vergangenheit zurückkehren, während junge Wähler enthusiastisch das europäische Projekt weiter mitgestalten wollten. Gibraltar stimmte mit 95% für einen Verbleib in der EU, und auch Schottland, Nordirland und London erwiesen sich als Hochburgen für die EU-Mitgliedschaft. Statt einer begründeten Ablehnung der EU-Mitgliedschaft an sich, war das Ergebnis vielmehr ein Weckruf gegen wirtschaftliche Ungleichheit innerhalb des Vereinigten Königreichs, gegen eine Globalisierung der Märkte und gegen die demgegenüber gleichgültige Haltung der Regierungselite in London. Das Volk wurde gefragt „Ça va?“ und die Mehrheit antwortet mit dem Schlachtruf der französischen Revolution „Ça ira!“

Die Strafe hierfür kam gnadenlos und unmittelbar nach der Volksabstimmung. Die Devisen- und Aktienmärkte stürzten ab. Die politischen Eliten Großbritanniens und in der EU verbrachten eine Wochenende in Schockstarre. Premierminister Cameron versetzte seinen Gegnern einen letzten Stoß, in dem er erklärte, er werde zurücktreten und den sogenannten Artikel 50 zum EU-Austritt nicht in Kraft setzen, wohl wissend, dass selbst seine Gegner einen solchen Schritt nicht intellektuell redlich und verantwortlich begründen könnten. Die Wortführer der Leave-Kampagne verstummten oder verabschiedeten sich schnell von ihren Versprechungen die Zuwanderung zu stoppen oder die eingesparten EU-Beiträge für das Gesundheitssystem zu verwenden. Die 48 Prozent der Wähler, die in der EU bleiben wollten, und andere haben mittlerweile eine Petition für ein neues Referendum lanciert, die jeden Tag eine Million neue Unterstützerunterschriften verzeichnet. Schottland, ohne dessen Zustimmung der Artikel 50 im Vereinigten Königreich nicht rechtmäßig angewandt werden könnte, erklärte, es wolle in der Europäischen Union bleiben, egal was England oder Wales entschieden. Und in London selbst wurde eine Kampagne initiiert mit dem Ziel, London zu einem unabhängigen Stadtstaat zu erklären, um dann weiter in der EU bleiben zu können.

In Brüssel nahmen die Präsidenten der drei EU-Institutionen Parlament, Kommission und Rat annullierten als allererstes die Sonderbedingungen, die David Cameron für den Verbleib in der Europäischen Union ausgehandelt hatte, vom Tisch. Die Präsidenten äußerten sich ähnlich wie Oliver Cromwell, der 1652 dem Englischen Parlament gegenüber sagte „Sie waren zu lange hier, für das was Sie Gutes erreicht haben. Gehen Sie deshalb jetzt und verschwinden Sie. In Gottes Namen, gehen Sie!“ Der britische EU-Kommissar, ein ehrenwerter, zurückhaltender Mann, nahm sich dies zu Herzen und ging. Ratspräsident Tusk lud am Freitag wie gewöhnlich alle Staats- und Regierungschefs für das nächste zweitägige EU-Ratstreffen am 28. und 29 Juni ein. Doch für den zweiten Tag wurden nur noch 27 der 28 EU-Mitglieder geladen. Großbritannien stand hier bereits vor der Tür.  Die Außenminister der sechs Gründungsmitglieder der EU trafen sich am Wochenende und äußerten sich ähnlich wie Präsident Tusk. Sie agierten, als hätte Großbritannien Artikel 50 schon aktiviert. Nur Angela Merkel nahm bislang eine abwägende Haltung ein und sagte, es sei nicht notwendig, Großbritannien sofort aus der EU zu drängen und die Trennung dürfe und solle auch nicht schmutzig werden.

Die Schnellschüsse und voreilige Reaktionen der vergangenen Tage haben nur Öl ins Feuer gegossen und die Wut in London und Brüssel gesteigert.

Die britischen Konservativen scheinen nicht mehr in der Lage zu sein, in der gegenwärtigen Formation das Land zu regieren und werden mit Sicherheit das Parlament auflösen und Neuwahlen herbeiführen. Zudem läuft eine parteiinterne Revolte gegen den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Corbyn stimmte 1975 für einen Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft und machte unter Nordenglands Labour-Wählern lediglich eine halbherzige Kampagne für den Verbleib in die EU. Andererseits wird das Vorpreschen der Außenminister der sechs EU-Gründungsstaaten in einigen europäischen Hauptstädten wie Budapest, Warschau oder Kopenhagen sicherlich nicht sonderlich gut ankommen.

Nur die Zeit wird zeigen, wie es alles ausgehen wird. Großbritannien benötigt zwölf bis sechzehn Wochen, um das momentane politische Chaos zu ordnen. Auch die EU sollte aus Gründen der Rechtstaatlichkeit dem Wortlaut von „Artikel 50“ folgen und abwarten, bis Großbritannien von sich aus den Austritt erklärt. Vielleicht besteht dann sogar die Möglichkeit, dass Großbritannien „Artikel 50“ doch nicht nutzt.

Sir Graham Watson war von 1994 bis 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments. Zwischen 2002 und 2009 führte er die liberale Fraktion im Europaparlament, bevor er 2011 Präsident der Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa wurde. Sir Graham blieb bis 2015 in diesem Amt. Heute ist Sir Graham Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss.