Aktuelles > Muster- oder Prügelknabe? Diskussionsveranstaltung zur aktuellen Politik Ungarns

Artikel Details:

Europäische Wertegemeinschaft, Justiz & Inneres

Muster- oder Prügelknabe? Diskussionsveranstaltung zur aktuellen Politik Ungarns

Die internationale Kritik der jüngsten Verfassungsänderungen in Ungarn reißt nicht ab. Heute standen die aktuellen innenpolitischen Entwicklungen Ungarns auf der Agenda des Europäischen Parlaments. „Ungarn auf dem Weg vom Musterknaben zum Prügelknaben?“ lautete der Titel der gestrigen Veranstaltung der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft e.V. in der Botschaft von Ungarn, die die öffentliche Wahrnehmung Ungarns thematisierte.

Der Generalsekretär des Netzwerks Europäische Bewegung Deutschland, Bernd Hüttemann, folgte der Einladung der EBD-Mitgliedsorganisation auf das Podium. Neben ihm diskutierten Inge Bell, Journalistin und Trägerin des „Preis Frauen Europas“ 2007, Karl Holmeier (CSU), MdB, Mitglied im Ausschuss für Angelegenheiten der EU, und Volker Schlegel, Botschafter a.D., zu den aktuellen Entwicklungen in Ungarn.

Der ungarische Botschafter Dr. József Czukor brachte in seiner Begrüßung zunächst seine Verwunderung über die starken internationalen Reaktionen zum Ausdruck. Situationen würden vor allem von den Medien verfälscht dargestellt. Ungarn sei mehr als die aktuellen Verfassungsänderungen. Gleichzeitig bezeugte der Botschafter Ungarns Interesse an einer europäischen Integration und das ungarische Bekenntnis zur Demokratie.

Nach der Vorstellung der Podiumsteilnehmer durch den Präsidenten der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft, Dr. Dr. Peter Spary, sollte zunächst Ungarns Rolle als „Musterknabe“ verortet werden. Nachdem die historische Entwicklung Ungarns, wie z.B. der Wandel zur Demokratie, herausgestellt und die erfolgreiche EU-Ratspräsidentschaft gelobt wurde, blieb eine echte Auseinandersetzung mit den internationalen Kontroversen an vielen Stellen auf der Strecke. Die von Bell und Hüttemann angebrachte Kritik, die jüngsten Verfassungsänderungen bedeuteten eine Gefahr für die europäische Wertegemeinschaft, wurde als eine von der Presse getriebene Vorverurteilung Ungarns zurückgewiesen. Wie schon der Botschafter sahen auch Holmeier und Schlegel eine Verfälschung der Situation in Ungarn durch die Medien. Schlegel hinterfragte überdies die Berechtigung der EU, sich in nationale Innenpolitik einzumischen. Auch Deutschland könne sich nicht anmaßen, zu urteilen. Schließlich sei auch hier nicht jede gesetzliche Regelung europarechtskonform. Hüttemann bekräftigte daraufhin noch einmal seinen Standpunkt, dass in einer Europäischen Gemeinschaft des Rechts, vor allem aber in einer Europäischen Wertegemeinschaft, ein Einmischen unerlässlich sei. Eine Abkehr vom Rechtsstaatlichkeits- und Demokratieprinzip auf nationaler Ebene habe Einfluss auf das gesamte Europäische Rechts- und Wertegefüge. Ein öffentlicher Diskurs unterstütze bei der Beobachtung nationaler Fehlentwicklungen und helfe so, die Integration auf einen gleichen Stand zu bringen.

Bell brachte Defizite bei der Meinungsfreiheit in die Runde und kritisierte das ungarische Mediengesetz. Zwar herrschte Konsens, dass Meinungsfreiheit prinzipiell zu gewährleisten sei. Holmeier schränkte jedoch ein, dass die Presse nicht sagen dürfe, was sie wolle. Sie habe eine Verantwortung bei der Verbreitung von Informationen.

Auch die Beschränkung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtes wiegelte Schlegel ab. Diese habe nach seiner Auffassung nichts mit Rechtsstaatlichkeit zu tun. Es sei vielmehr ein notwendiger Schritt, um demokratische Strukturen zu wahren, wenn Verfassungsgerichte wie in Ungarn, aber auch in Deutschland, sich als Ersatzgesetzgeber verstünden und den demokratisch legitimierten Parlamenten in die Quere kämen. Aus dem Publikum kam auf diese These der Einwand, dass es auch zur Demokratie gehöre, Minderheiten zu schützen. Man müsse daher mit einer Zweidrittelmehrheit politisch verantwortungsvoll umgehen. Hüttemann zitierte daraufhin Tocqueville, Demokratie sei die Diktatur der Mehrheit, und warb noch einmal für eine Selbstzurückhaltung der Mehrheit im Interesse von gesellschaftlichen Minderheiten.