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Europäische Wertegemeinschaft, Institutionen & Zukunftsdebatte

Quo vadis Europa? Nicht schon wieder!

Mit einem Augenzwinkern und (film-)historischen Bezügen beleuchtete EBD-Generalsekretär Bernd Hüttemann vor den Mitgliedern des Rotary Clubs in Berlin die Inflation der mit „Quo vadis Europa“ betitelten Veranstaltungen und Diskussionsrunden. Sein Fazit: Fragt nicht Europa, wohin es geht, sondern den Rest der Welt! Die Rede vom 8. August im Wortlaut:

Wohin geht Europa?

„Europa zittert: Börse im Sinkflug, Bankensektor wackelt: Quo vadis …“ „Quo Vadis Europa – Euro-Verfall, Bankgeheimnis“ „Europäische Telekommunikationsregulierung: Quo vadis?“ „Vor der Europawahl – Europa – quo vadis?“ Google-Fundstücke vom 8. August 2014

Danke, Herr Präsident Fischer für die einleitenden Worte. Vielen Dank natürlich auch an Dich, liebe Anne Deter. Das ist ein spannender Mittag!

EuropŠische Bewegung Deutschland
Bernd Hüttemann

Als wir den Titel im Vorfeld besprachen, und wie gesagt, die Krisen hatten noch nicht die Ausmaße wie jetzt, hatte ich einen Reflex. Zur Zukunft der Europas zu reden ist sicher ein lohnendes Unterfangen. Aber bitte nicht „Europa Quo Vadis“! Bitte nicht schon wieder einen solchen Titel, der mich und meine Kollegen über Jahrzehnte geradezu verfolgt. Eine gefühlte Inflation von Veranstaltungen und Publikationen mit diesem Titel hat jemanden, der beruflich und oft mit viel Kleinklein mit Europapolitik zu tun hat, schon immer gestört. Welchen Zweck verfolgen die Veranstalter und Autoren mit diesem Titel? Würde ich zu „Quo Vadis Berlin?“ oder „Quo Vadis Deutschland?“ gehen? Aber dann sagte ich mir: Tugend schlägt Not: Es muss sich lohnen, das Begriffspaar einmal näher zu untersuchen. Vielleicht lassen sich daraus tatsächlich Rückschlüsse auf die Zukunft der Europäischen Union ziehen.Nun repräsentiere ich hier ein europapolitisches Netzwerk, eine Mittlerorganisation des Auswärtigen Amtes, das 1949 aus den Erfahrungen des Krieges gegründet wurde und kommuniziere mit Rotariern, die sich den Millenium Development Goals der UNO verpflichtet fühlen. Und denen steht voran das schöne Wort: Frieden. Frieden als Abwesenheit für Krieg und als Zukunftsszenario. Wir haben anlässlich unseres 65-jährigen Jubiläums eine Schrift eines der Gründungsväter der Bundesrepublik, aber auch eines engagierten Verfechters der europäischen Idee im Nachkriegsdeutschland veröffentlicht; Carlo Schmid zitiert darin 1949 junge Deutsche: „Wenn die Alten über das notwendige Maß an Bedachtsamkeit hinaus zögern sollten, dann werden wir Jungen ihnen das Steuer aus der Hand nehmen, denn das Schiff unserer Zukunft kommt nur mit einem Kurs zum guten Hafen: mit dem Kurs auf Europa!“ Gilt das noch heute? 65 Jahre danach? Ich bin gespannt auf die spätere Diskussion.Als ich dem Vortrag schon vor etlichen Monaten zugestimmt hatte, dachte ich an eine entspannte Sommerzeit, mit dem üblichen Sommertheater. Da wäre es doch wunderbar mit Unterstützern einer Organisation, die sich dem Gemeinwohl verpflichtet hat, über die Zukunft der Europäischen Union sprechen zu können. Aber selbst zwischen zwei Urlaubswochen bekomme ich einen Schrecken und Sehnsucht, dass doch, bitte schön, nur Automaut und Modellautos die Schlagzeilen prägen sollten. Wie um Himmels willen soll man bei Ukraine, Westafrika, Irak, Palästina, Israel, Krieg, Seuchen, Mord und Hass noch über die Zukunft Europa sprechen?

Woher kommt nun der Begriff und was hilft er uns in Bezug auf die Zukunft der Europäischen Union?

Meine Eltern hatten ein gleichnamiges Buch im Schrank. Dessen Titel passte zu heimeligen familiären sonntäglichen Fernsehnachmittagen im verregneten Paderborn. In den 70ern schaute man noch kollektiv Hollywoodfilme – alte Schinken – und ja, einer hatte den Titel „Quo vadis“. Das Bild ist in meiner Erinnerung geblieben: ein grandios verrückter Peter Ustinov, der auf ein kitschig brennendes Rom schaute. Mervyn LeRoys Film von 1951 stellte einen vorgeblichen Cäsaren-Wahn Neros dar, nur 6 Jahre nach dem Weltenbrand eines eindeutigen Wahnsinnigen, der in Asche vor einem Bunker endete. Mir ist damals – trotz meiner katholischen Erziehung – nicht in Erinnerung geblieben, welche Rolle das Christentum in dem Film spielte. Zu beeindruckend waren die Zerstörungen und Verfolgungen. Ein kleiner Eindruck, wie es die Europäer unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg empfunden haben müssen. War die Stimmung in den kaltkriegerischen 70ern noch wie 1951? Ein Fragendes Quo vadis allerorten? Ich denke schon. Gehen wir noch einen Schritt zurück. LeRoys Film basierte auf dem Roman Quo Vadis des polnischen Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz. Sienkiewicz schrieb die Vorlage aber schon 1889, wie der Hollywoodfilm nicht im luftleeren Raum. Die polnische Nation war territorial aufgeteilt auf Russland, Preußen und Österreich-Ungarn. Dieser Roman gab eine ganz andere Grundlage für die Fragestellung „Quo Vadis?“. Der Film stellte die Katastrophe und den Wahnsinn in den Vordergrund, das Buch die Verfolgung und die Hoffnung auf Erlösung, nämlich die Polens vor deutscher und russischer Unterdrückung.

Gehen wir noch einen weiteren Schritt zurück: Tacitus‘ Annalen erschienen zwischen 110 und 120 nach Christus. Tacitus‘ Annalen waren nur ein Teil von Sienkiewicz‘ Roman. Er griff auf unterschiedliche Motive zurück. Sein wichtigster Bezug war das Johannesevangelium 13, 37: Simon Petrus sagte zu ihm: „Herr, wohin willst du gehen?“ Jesus antwortete: „Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen.“ Die römische Legende glaubt den Ort des Geschehens zu kennen: Die Kirche „Santa Maria in Palmis” an der Via Appia, auch „Quo Vadis“ genannt. Wer davor steht, bekommt einen Eindruck, wie weit sich Petrus aus dem antiken Rom schon heraus bewegt hatte, aus Furcht vor seinen Verfolgern. Aber Sienkiewicz bezieht sich nicht nur auf die Bibel, das wäre weniger dramatisch sondern auf die Apokryphen, die nicht Teil des katholischen Kanons sind. „Wohin gehst du, Herr?“ – „Nach Rom, um mich erneut kreuzigen zu lassen“. Petrus kehrte daraufhin um und wurde in Rom gekreuzigt. Nun könnte man die Legende in Bezug auf Europa vielleicht so interpretieren: Bei „Quo Vadis Europa?“ müsste also Jesus mit Europa gleichzusetzen sein. Die Antwort auf  „Wohin gehst Du Europa?“ hierauf hieße also: „Ich, Europa, gehe in das Inferno, um unterzugehen.“ Nimmt man die Interpretation von Sienkiewicz zur Grundlage, dann ist es allerdings, wie schon in der christlichen Vorstellung auch, eine Umkehr in die Erlösung. Denn wir alle wissen, an der Stelle wo Petrus mutmaßlich gekreuzigt wurde, entstand die römisch-katholische Kirche. Nimmt man aber die Interpretation von 1951 als Grundlage, dann wird natürlich auch das Heilsversprechen nun mit einem cineastischen „Happy End“ behandelt, aber der Eindruck des Grauens und der Zerstörung muss auf die Menschen in Europa ungleich größer gewesen sein, bei allem Respekt vor dem Leiden der besetzten polnischen Nation.

Warum nun aber gibt es so eine inflationäre Nutzung der Begriffsparung „Quo Vadis Europa?“.

Hierzu eine weitere Beobachtung: „Quo Vadis Europa“ zählt Google auf Deutsch 398.000 mal, auf Englisch 616.000 mal – aber es fällt auf, dass es meist Übersetzungen deutscher Projekte und Veranstaltungen sind. Ich interpretiere dies folgendermaßen: Es herrscht gerade in Deutschland nach dem Krieg eine Sehnsucht nach europäischen Antworten, ganz im Sinne von Carlo Schmid. Europa ist die Zukunft. Aber gleichzeitig mischt sich darin auch eine ungläubige Skepsis. Wohin soll die europäische Integration noch führen? Können wir noch an die Heilsversprechen Europas glauben? Ich kann nicht ganz genau feststellen, ob gerade die kriegerischen Unheilsmeldungen zu einer neuen Inflation von „Quo Vadis Europa“ führen. Aber ich könnte es mir denken. Ich weiß, es wird in diesen Tagen vielleicht zu inflationär gebraucht. Aber ich möchte Ihnen den letzten Satz in Christopher Clarks „Sleepwalkers“ vorlesen: „the protagonists of 1914 were sleepwalkers, watchful but unseeing, haunted by dreams, yet blind to the reality of the horror they were about to bring into the world.“ Clark betont an mehreren Stellen, dass sich 1914 ganz und gar von 2014 unterscheidet: heute gebe es Institutionen, die Europa einen und Antworten auf drängende Fragen der Zeit geben.

Aktuell stehen außenpolitische Fragen im Vordergrund. Aber bis vor Kurzem prägten noch wirtschaftspolitische Schlagzeilen das Feld. Der Europäisierungsprozess unserer Gesellschaften ist fast so unmerklich vorangeschritten, dass er wiederum die Frage nach einem „Quo Vadis?“ hervorruft. Wohin soll dieses „mehr Europa?“ denn noch führen? Europas Integration wird zu einem verhedderten Knäuel. Wir verlieren oft genug die Geduld es zu entwirren. Das „Quo Vadis“ übersetzen Politologen oftmals mit der „finalité de l’Europe“. Ich wollte hier ganz bewusst nicht einen Vortrag über die unterschiedlichen Modelle Europas halten, sondern über die Gemütslage Europas, die zur Frage „Quo Vadis“ führt. Bundesstaat, Staatenbund, Staatenverbund sind letztendlich juristische, politikwissenschaftliche Hilfskonstruktionen, wenn es darum geht, Lösungen für Herausforderungen für Frieden und Wohlstand zu finden. Längst sind wir in einem Mehrebenensystem der Demokratie in Europa angekommen, wo es natürlich knirscht und knarrt. Aber das Vertrauen in die Europäische Union ist meist höher als in den Nationalstaat.

Es lohnt sich, die Rede vom designierten Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker in diesen Tagen zu lesen: „Ein neuer Start für Europa“. Die Europapolitik baut nicht auf ganz neue Konzepte, sondern auf die konsequente Umsetzung und Verbesserung des Lissaboner Vertrages. Fast unbemerkt hat der Vertrag den allergrößten Teil des Besitzstands des Verfassungsvertrages umgesetzt. Mit der Durchsetzung des „Spitzenkandidaten“ Juncker haben die großen europäischen Parteienfamilien die nationalen Regierungen, aber auch große Teile der Öffentlichkeit überrascht, wenn auch weniger in Deutschland. Juncker wird mit der Betonung der demokratischen Gemeinschaftsmethode, der Parlamentarisierung und des guten Regierens noch viele weitere Überraschungen bieten. Doch möchte ich unbedingt dafür plädieren, dass wir Europa nicht mehr „Quo Vadis?“ fragen.

Wir haben kein unterdrücktes, verfolgtes Europa, wir haben auch keine Zerstörung auf dem Gebiet der heutigen Europäischen Union. Wir wollen auch nicht, dass Europa durch Kreuzestod erlöst wird! Wir brauchen ein starkes, einiges, selbstbewusstes Europa, gerade in diesem „tödlichen Sommerloch 2014“. Wie nannte noch Clark die Europäische Union anlässlich der Eröffnung der Salzburger Festspiele am 27. Juli 2014: „Eine der größten Errungenschaften in der Geschichte der Menschheit.“ Fragt also bitte nicht Europa, wohin es geht, sondern den Rest der Welt! Quo vadis mundus? „Welt, wohin willst du gehen?“ fragt Europa und gibt selbst die Antwort: „Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen.“ Amen