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EU-Erweiterung, Außen- & Sicherheitspolitik, Europäische Wertegemeinschaft, Europakommunikation

Ruhe bewahren! Auch wenn Flüchtlinge und Satiriker Grenzen überschreiten

Zum ersten Mal lädt die Europäische Bewegung heute zum EBD Dialog EU-Türkei ein. Das lange vereinbarte Thema „Die EU-Türkei-Beziehungen in Zeiten der Flüchtlingskrise“ wird nun inmitten der allgemeinen Aufregung um die Böhmermann-Satire diskutiert werden. Um so mehr ist es EBD-Präsident Dr. Rainer Wend ein Anliegen, die Diskussion zu versachlichen. „Es ist die Stunde des coolen Dialogs und der Sachlösung“, schreibt er in seinem Europapolitischen Einwurf im Vorfeld der Veranstaltung.

Gerade weil die Türkei für Europa beispiellos 2,5 Millionen Flüchtlinge aus den syrischen Kriegsgebieten aufgenommen habe, sei westliche Scheinheiligkeit fehl am Platz, mahnt Wend. „Aber da eine freie Öffentlichkeit ein hohes Gut ist, muss jeder Politiker Opposition aushalten, ja ehren.“ Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit seien im europäischen Wertekanon unverhandelbar. Die Türkei müsse sich demokratisieren, wenn sie den Weg nach Europa gehen wolle. Die aktuellen Verstimmungen zwischen Ankara, Berlin und Brüssel seien jedoch weder von Flüchtlingen noch von Satirikern verschuldet. „Wir müssen uns klar machen, dass sie nur Symptome größerer Probleme sind.“ Probleme, die nur gemeinsam gelöst werden könnten: „Bunu ancak birlikte başarabiliriz! – Nur gemeinsam können wir es schaffen! Das sind wir dem freiheitlich- demokratischen Geist in Europa schuldig.“

Der EBD Dialog mit dem türkischen Botschafter S.E. Hüseyin Avni Karslıoğlu, Beate Grzeski, Leiterin Koordinierungsstab Flucht und Migration im Auswärtiges Amt und Richard Nikolaus Kühnel, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland, findet in der türkischen Botschaft statt. EBD-Präsident Dr. Rainer Wend übernimmt die Moderation. Verfolgen Sie die Debatte auf Twitter unter #EBDDialog

Der Europapolitische Einwurf im Wortlaut: 

Die Verletzung von Grenzen oder auch roten Linien scheint momentan an der Tagesordnung im türkisch-deutsch-europäischen Verhältnis. Sei es auf physische Weise in der Flüchtlingskrise, oder im übertragenen Sinne im akuten Satirestreit. Beiderlei Grenzverletzungen sind für viele schwer zu ertragen. Doch so unterschiedlich die Motive dafür sind, so sehr müssen wir uns klar machen, dass sie nur Symptome größerer Probleme sind.

Weder Flüchtlinge noch Satiriker sind an den aktuellen Verstimmungen schuld. Die – zugegeben – schwere Verantwortung tragende Politik muss über die Grenzen hinweg Ruhe bewahren. Es ist die Stunde des coolen Dialogs und der Sachlösung.

Jenseits kompliziert-doppelbödiger „Was darf Satire“-Inszenierungen mit Strafandrohung müssen jetzt erst recht Fakten und Argumente ausgetauscht werden. Gerade weil die Türkei für Europa beispiellos 2,5 Millionen Flüchtlinge aus den syrischen Kriegsgebieten aufgenommen hat, ist westliche Scheinheiligkeit fehl am Platz. Aber da eine freie Öffentlichkeit ein hohes Gut ist, muss jeder Politiker Opposition aushalten, ja ehren.

Ehrlich und unaufgeregt miteinander ins Gespräch kommen, eine sachliche Debatte führen, die keinen Aspekt auslässt und kritische Äußerungen zulässt: Das ist das Ziel des EBD Dialogs, zu dem die Europäische Bewegung am heutigen Donnerstag einlädt. S.E. Botschafter Hüseyin Avni Karslıoğlu stellt sich wie die Bundesregierung und die EU-Kommission kritischen Fragen zu den „EU-Türkei-Beziehungen in den Zeiten der Flüchtlingskrise“. Es geht um Fragen wie Visa-Liberalisierung, Eröffnung von Beitrittskapiteln über Haushaltsfragen bis zum Geld zur Finanzierung der Flüchtlingspolitik. Und, ja, wir reden auch über Werte, die für uns nicht zur Disposition stehen und die von einem erheblichen Teil des türkischen Volkes um so mehr ersehnt werden, je rigider durchgegriffen wird.

Es gibt kein „entrüstetes Verbitten der inneren Einmischung“ mehr im Zeichen einer europäischen Innenpolitik: Fachleute ebenso wie Komiker müssen sich einmischen.

Da die Empörungsmaschinerie auf beiden Seiten des Bosporus auf Hochtouren läuft – versuchen wir heute eine Versachlichung der überhitzten Debatte. Neue Antworten auf die drängenden Fragen beim Thema Flucht, Asyl und Migration können nur gemeinsam und solidarisch erarbeitet werden. Die EU braucht dazu die Türkei als Partner. Doch dieses „Brauchen“ ist keine Einbahnstraße.

Visafreiheit ist so ein Punkt, der Vertrauen schafft und Demokratie stärkt. Sachliche Argumente sind auch hier gefragt: visafreies Reisen nutzt gerade den engagierten Bürgerinnen und Bürgern, fördert nicht nur Wirtschafts-, Sport- und Jugendaustausch sondern ganz allgemein zivilgesellschaftliche Kontakte. Rigide Visapolitik hingegen setzt Zeichen der Abschottung, während sie Terroristen nicht stoppt, die sich ohnehin meist in der EU rekrutieren.

Zur Versachlichung gehört aber auch, dass sich die Türkei demokratisieren muss! Von den demokratischen Kopenhagen-Kriterien ist das Land heute weiter entfernt als in den Jahren nach Eröffnung der Beitrittsverhandlungen. Aus vielen positiven Signalen von damals sind alarmierende geworden: Redaktionsrazzien und Zwangsverwaltung, Kündigung kritischer Journalisten, die Missliebigen bekommen Schauprozesse. Wer eine europäische Türkei möchte, darf nicht zulassen, dass Politiker, wo und bei wem auch immer, Pressefreiheit einzuschränken trachten.

Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit stehen im europäischen Wertesystem nicht zur Disposition, Geschmacklosigkeit hin, Dünnhäutigkeit her. Vor einem guten Jahr – „je suis Charlie!“ – schien das noch Konsens zu sein. Freiheitlich demokratische Staaten müssen sich auch für geschmacklose Meinungsfreiheit einsetzen, egal wie kompliziert die Sachzwänge liegen mögen.

Wir müssen einander zuhören und – jenseits der Hysterie – wieder lernen, voneinander zu lernen. Sonst platzt die langfristige weil sorgfältige Integration der Türkei in die EU, aber auch der „Deal“ zur Entspannung der Flüchtlingskrise.

Bunu ancak birlikte başarabiliriz! – Nur gemeinsam können wir es schaffen! Das sind wir dem freiheitlich- demokratischen Geist in Europa schuldig.