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Zwischen Spitzenkandidat und Brexit: UKs Europaminister Lidington bei „EBD Exklusiv“

Proeuropäisch, demokratie- und wettbewerbsorientiert: So versteht Großbritannien seine Rolle in der EU. Einen Tag vor dem Europäischen Rat warb der britische Europaminister David Lidington bei EBD Exklusiv für die Europapolitik der Regierung Cameron und diskutierte mit 60 Vertreterinnen und Vertretern von Mitgliedsorganisationen, institutionellen Partnern und der Presse Chancen und Grenzen ihrer Umsetzung. Gastgeber war der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK).

In seiner Begrüßung machte der stv. DIHK-Hauptgeschäftsführer Dr. Volker Treier deutlich, dass das Vereinigte Königreich aus Sicht der deutschen Wirtschaft ein zentraler Dialogpartner mit ähnlichen Positionen zu Themen wie Marktwirtschaft, offene Gesellschaft und Freiheit sei. Er hoffe – auch angesichts der aktuellen Diskussionen um einen möglichen EU-Austritt Großbritanniens – auf den Erhalt dieser Partnerschaft. Moderator Bernd Hüttemann erinnerte in seiner Einleitung der Rede an den Gründer der Europäischen Bewegung Deutschland: den Briten Duncan Sandys.
Auch David Lidington begann seine Rede mit einem Blick zurück: Sein erster Besuch im geteilten Berlin habe ihn geprägt, genau wie der Mauerfall 1989. Für ihn bedeutete das Ende der Spaltung Europas: „Ein Wandel zum Besseren ist möglich.“ Genau das gelte auch für die EU von heute, weswegen eine Reformagenda für die EU ganz oben auf der Agenda der britischen Regierung stehe.
 Mit drei Missverständnissen der britischen EU-Agenda in Deutschland wollte der Europaminister aufräumen: Der Europa-Kurs Großbritanniens sei weder antieuropäisch noch antidemokratisch. Das Land spiele sehr wohl nach europäischen Regeln. Auf dem Weg in eine „immer engere Union der Völker Europas“ suche die britische Regierung aber nach einer Alternative.
Dass Großbritannien proeuropäische Politiken stütze und vorantreibe, sei zum Beispiel beim gemeinsamen Vorgehen zur Ukraine, dem Iran, im Kosovo, bei den EU-Beitrittsverhandlungen oder auch beim Thema Wettbewerbsfähigkeit deutlich sichtbar. Aus der Sicherung der globalen Wettbewerbsfähigkeit Europas begründe sich auch Londons Bemühungen um eine weitere Integration des Binnenmarktes in den Bereichen Energie, Digitales oder Dienstleistungen. Es komme allerdings darauf an, den Unternehmen Innovationsfreiheit zu geben und sie in nicht noch mehr Gesetzen einzuengen. Die neue Kommission brauche den Ehrgeiz und die Disziplin, nur noch dort zu regulieren, wo es unbedingt nötig sei.
Gegen den Spitzenkandidaten-Prozess wehre sich Großbritannien nicht, weil es die europäische Demokratie nicht respektiere, sondern vielmehr weil es sich um deren Zustand sorge. Angesichts der desolaten Wahlbeteiligung bei der Europawahl müsse die Union ihren Bürgern wieder das Gefühl geben, dass ihre Stimme zähle. Indem ein Spitzenkandidat, der europaweit weder zur Wahl stand noch bekannt war, an den Staats- und Regierungschefs vorbei zum Kommissionspräsidenten gemacht werde, sei dieses Ziel nicht erreicht. Die Stärkung des EP mit den letzten Vertragsänderungen habe die EU weder demokratischer gemacht noch das Vertrauen der Bürger in die Union erhöht. Viel wichtiger sei es, so Lidington, die Rolle und insbesondere die Zusammenarbeit der nationalen Parlamente im EU-Gesetzgebungsprozess aufzuwerten, zum Beispiel über eine verschärfte Subsidiaritätsrüge bis hin zur „Roten Karte“.
 Dass Großbritannien einen Sonderweg einschlage, könne Lidington nicht feststellen. Vielmehr bestehe die Gefahr, dass sich die Staaten der Eurozone weiter integriert. London habe dieser Entwicklung nicht im Wege gestanden, sei aber besorgt, dass diese Länder mit ihrer „eingebauten qualifizierten Mehrheit“ im Rat die Nicht-Eurostaaten zur Übernahme von Gesetzen zwingen könnten. Großbritannien kämpfe für Fairness für alle Mitglieder des Binnenmarktes – auch die außerhalb der Eurozone.
Warum hat man den Spitzenkandidaten-Prozess nicht schon früher aufgehalten? Mit welchen Argumenten kann Cameron jetzt noch verhindern, dass der Europäische Rat Juncker als Kommissionspräsident nominiert? Was macht Großbritannien, wenn es doch passiert? Wie wird sich London im Fall eines erfolgreichen UK-Austrittsgesuches von Schottland verhalten? Warum fordert das Land eine unabhängige Europäische Kommission, wenn es ihr gleichzeitig über den Europäischen Rat eine politische Agenda aufdrücken will? Die Teilnehmenden unterzogen Lidingtons Ausführungen in der anschließenden Diskussion einem Reality Check. Der britische Europaminister blieb diplomatisch: Die Spitzenkandidaten hätten nicht europaweit zur Wahl gestanden und fänden keine Erwähnung in den Verträgen. Ein „politischer“ Kommissionspräsident berge die Gefahr, dass sich die Kommission vom „Unparteischen“ zum „Geschöpf des Europäischen Parlamentes“ entwickele. Ein schottisches Austrittsvotum aus dem Vereinigten Königreich werde London akzeptieren, allerdings dürften sich die Schotten nicht erhoffen, eine EU-Mitgliedschaft zu gleichen Konditionen wie als Teil Großbritanniens zu erlangen. Den „Britenrabatt“ könne man nicht so einfach erben. Widerstand aus dem Publikum gab es beim Thema „rote Karte“ der nationalen Parlamente: Die Einführung der Qualifizierten Mehrheit im Rat, und damit das Ende der Veto-Player, habe die Binnenmarktintegration vorangebracht. Jetzt mit neuen Vetomächten auf nationaler Ebene den digitalen und Dienstleistungsmarkt zu integrieren, sei kontraproduktiv. Lidington erwiderte, dass für eine „rote Karte“ die Hürde entsprechend höher gelegt werden müsste als bislang.
Am Ende der Diskussion stand fest: Ganz egal, in welche Richtung die Reformen der EU gehen werden, das Fenster für Vertragsänderungen ist nicht groß: Es öffnet sich, sobald die neue Kommission ihre Arbeit aufnehmen kann, und schließt sich 2016, wenn der französische Präsidentschaftswahlkampf beginnt. Der Europäische Rat im Juni ist nur ein erster Schritt auf dem Weg dahin. Über die Ergebnisse des Rates wird am kommenden Montag beim EBD De-Briefing berichtet.