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  • 27.06.2016 - 11:14 GMT

Europa braucht ein neues Betriebssystem | Politischer Bericht des EBD-Präsidenten 

Foto: EBD

Nach Peter Altmaier (vorne) ergriff Dr. Rainer Wend das Wort. Foto: EBD

Der Politische Bericht des EBD-Präsidenten Dr. Rainer Wend war in diesem Jahr eine Replik auf die Rede von Kanzleramtsminister Peter Altmaier.

Es gilt das gesprochene Wort

Meine lieben Freundinnen und Freunde,

Lieber Herr Altmaier,

unser Dank gilt auch unserem früheren Vizepräsidenten. Wir sind froh, dass endlich ein europäischer Realpolitiker das Kanzleramt führt, der keiner demokratischen Debatte aus dem Weg geht. Großer Dank, dass Sie am Montag nach dem Brexit-Referendum bei uns sind!

Da, wo Demokratie und Solidarität geschwächt sind, da gedeiht Populismus. Und der Populismus gedeiht nicht in Brüssel, sondern an den nationalen Rändern der Gesellschaft, sozial und territorial!

Le Pen wird nicht in Paris gewählt, sondern in der Peripherie – UKIP nicht in London, sondern im englischen Hinterland. Nicht die gut Ausgebildeten sind verunsichert, sondern die von der Gesellschaft Vernachlässigten und nicht Beachteten. Da, wo die Mittelschicht verängstigt ist, da weiß sie nicht mehr, was in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung aus ihr wird, da begehrt sie in Referenden gegen das Establishment auf.

Es sind Korruption und die Selbstverliebtheit der Intelligenz, die die Menschen in ganz Europa, ja in der ganzen westlichen Wertegemeinschaft gegen „die da Oben“ und „die da Hinten“ aufbringt. Dass nicht Europa das Hauptproblem ist, zeigt sich an Donald Trump: Stellen Sie sich vor, was der von sich lassen würde, wenn die USA ein Teil einer Europäischen Union wäre.

Und auch das erneute Patt in Spanien zeigt, dass es eine große Unzufriedenheit gegen das politische Establishment gibt. Aber was die Spanier nun sagen, ist: die Demokratie ist kompliziert. Wir können sie nur stärken, wenn Mehrheiten mit Minderheiten um die besten Kompromisse ringen. Wie viele andere Länder auch muss Spanien erst lernen, wie Brücken und Koalitionen zu bauen sind.

Die Professionalisierung der „good Governance“, der Presse-Spin à la House of Cards, die reinen Expertenrunden, das Gerede von Führung und Narrative, all das mündet auch bei uns in Deutschland in schlichten Hass auf die Politiker oder die Lügenpresse.

Machen wir uns nichts vor: Auch Europa hat seinen Anteil an der Verunsicherung. Es ist schlicht noch nicht komplett. Nationale Politiker in fast jeder Hauptstadt verstecken sich hinter Brüssel oder nutzen Fehler im EU-System aus, um demokratische Standards zuhause zu umgehen. Gerade die Diplomatie, die Regierungsämter und auch Parteien verweisen gerne auf die da in Brüssel, verschweigen aber. wie sehr sie Ursache und Teil des unvollendeten Systems sind. Und wenn das von uns sehr geschätzte Europäische Parlament zum großen Förderer von Intransparenz in Gesetzgebungsverfahren wird, dann zeigt es, dass der EU-Parlamentarismus noch nicht ausreichend gefördert wird.

Lieber Herr Altmaier, Deutschland hat über Jahre seine Hausaufgaben nicht gemacht. Das was lange Zeit aus ihrem Haus als „Unionsmethode“ bezeichnet wurde, hat nur kaschiert, dass europapolitische Kommunikation und Koordination – um es nett auszudrücken – sehr exklusiv interpretiert wurde. Die Gemeinschaftsmethode wurde nicht kaputtgeredet, weil sie nicht funktioniert, sondern weil es den Staatskanzleien einfach nicht passt, wenn es ein starkes Europäisches Parlament gibt, das eine politischere Europäische Kommission wählt.

Dublin III war eine Versicherung, von der mehrere Bundesregierungen wussten, dass sie schlicht nicht gedeckt war. Ich nenne das unterlassene Hilfeleistung. Für die Flüchtlinge selbst und, nach der richtigen Entscheidung die Grenzen nicht (!) dicht zu machen, für die Kommunen und gesellschaftlichen Kräfte, mit ihren aufopferungsvoll arbeitenden Bürgerinnen und Bürgern, ob in Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden oder in spontanen Gruppen.

Europa braucht ein neues Betriebssystem. Ob Hardware oder Software, ist sicherlich zu diskutieren. Aber – um beim Bild zu bleiben – die „User“ müssen eingebunden werden. Wir alle kennen diese Computeradministratoren, sie sind nur gut, wenn sie auch den Anwender kennen.

Sicher, Bedenken wegen EU-Vertragsänderungen sind verständlich. Aber doch bitte doch nur in den Amtsstuben. In der Politik brauchen wir klare Ansagen an die Öffentlichkeit, dass der Dialog zu den nationalen und europäischen Konstruktionsfehlern gewünscht wird!

Wir brauchen eine klare Ansage bei der demokratischen Entwicklung der EU! Mehr geteilte Verantwortung in der Europapolitik, mehr demokratischen Pluralismus. Und wir brauchen strukturierte und selbstgetragene Debatten allerorten. Pressemitteilungen und inszenierte Bürgerforen reichen nicht mehr!

Alles muss genutzt werden, um die Demokratie im Rahmen der Verträge zu stärken. Da haben Sie recht. Aber warum das Zaudern bei den Spitzenkandidaten zur Europawahl? Alle deutschen Parteivorsitzenden sollten von der Bundesregierung jetzt ermutigt werden, Spitzenkandidaten von den Wahlkreisen bis zu nationalen und europäischen aufzustellen. Dass Deutschland sich im Allgemeinen Rat nicht wie Italien mutig dazu bekannt hat, ist schlicht enttäuschend. Es kommt der Eindruck auf, der Apparat will vom Volke nicht gestört werden.

Wo bleibt der Mut in der Politik? Wir müssen klare Kante zeigen, dass der Gemeinschaftsmethode der EU gestärkt wird! Und wir haben den dringenden Wunsch an unsere Mitgliedsparteien, dass sie in diesen Fragen die Wahlprogramme breit und strukturiert nicht nur mit den Parteimitgliedern, sondern den gesellschaftlichen Kräften diskutieren.

Die Politischen Forderungen sind sowohl in ihrer Genese als auch im Ergebnis beeindruckend. Wir haben Ihnen längst ein Exemplar des Leitantrages ausgedruckt!

Aktuell besorgt uns natürlich der Brexit: Ich habe die etwas sanfteren Töne der Bundesregierung in Bezug auf den Zeitpunkt der „Austrittsverhandlungen“ (welch schreckliches Wort) so verstanden, dass Deutschland Teil einer „Good cop – bad cop“ Taktik ist. Das ist gut so. Das Vereinigte Königreich darf jetzt nicht noch mehr destabilisiert werden. Damit ist keinem gedient.

Aber wir stimmen überein: keine Extrawürste mehr, kein Rosinenpicken für London! Gleichzeitig müssen wir auch in der Flüchtlingskrise der Gemeinschaftsmethode zum Durchbruch verhelfen. Nicht naiv, aber beständig. Auch hier sind wir froh, dass ein Europäer diese Rolle im Kanzleramt ausfüllt.

Die EBD, die Kommission und die Bundesregierung sind in der Flüchtlingskrise einig. Wir haben in der Flüchtlingskrise und in der Diskussion um Schengen klar gemacht, dass die gesellschaftlichen Kräfte Deutschlands für die Grundwerte Europas stehen!

„Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.“ Das Zitat stammt nicht von mir, sondern aus der Demokratierede von 1969 von Willy Brandt. Heute wissen wir, dass er sich mit Helmut Kohl schlussendlich in Sachen freiheitlicher Demokratie und Europapolitik einig war!

Heute muss durch ganz Europa ein Ruck gehen: Mehr europäische Demokratie wagen. Und zwar auf allen Ebenen und in allen Regionen Europas, von den Kommunen bis nach Brüssel.

Ich bin froh, dass ich mir hier mit dem Chef des Kanzleramtes und dem Vertreter der Europäischen Kommission einig bin!

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