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  • 26.06.2017 - 11:00 GMT

„Europa wird durch uns!“ – Politischer Bericht des EBD-Präsidenten an der EBD-MV 2017

Ein Jahr nach dem Brexit-Entscheid der Briten versammelten sich die Delegierten der 249 EBD-Mitgliedsorganisationen zum EBD-Netzwerktag am 26. Juni 2017 in der italienischen Botschaft in Berlin. In seinem politischen Bericht geht EBD-Präsident Dr. Rainer Wend auf ein wechselhaftes Jahr zwischen populistischen Bedrohungen für die europäische Demokratie und hoffnungsvollen Initiativen und pro-europäischen Wahlergebnissen ein. Mit Blick auf die anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland und den Herausforderungen innerhalb der EU fordert die EBD eine mutige, moderne und entschlossene Europapolitik der neuen Bundesregierung.

–  Sperrfrist: 11.45 Uhr, 26.6.17 –

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr verehrter Herr Vizekanzler, Exzellenzen, Abgeordnete, liebe Vizepräsidenten, Vorstandsmitglieder, liebe Delegierte, liebe Gäste,

gleich am Morgen des Brexit-Schocks haben wir im Guardian kommentiert: „This time the EU will keep calm and carry on“. Und drei Tage später war sich die EBD-Mitgliederversammlung (2016) zusammen mit Kanzleramtschef Peter Altmaier einig: Wir stehen zur demokratischen Wertegemeinschaft EU und zu ihren Freiheiten. Wir stehen zur Solidarität!

Wir alle – Staat und Gesellschaft – haben klare proeuropäische Kante gezeigt. Bei unseren Politischen Forderungen „Europäisch denken, handeln und regieren!“ und im Anschluss beim Zusammenstehen in der Brexitfrage. Wir stehen als gesellschaftliche Kräfte in Deutschland für eine starke EU27! Und wir zeigen keine Schadenfreude für die Menschen im Vereinigten Königreich. Wir bedauern aber respektieren die Entscheidung. Heute, ein Jahr nach dem Brexitbeschluss, gilt: Es ist nie zu spät für die Rückkehr, aber diese muss mit einem klaren proeuropäischen Commitment verbunden sein. Nur ein ernst gemeinter Wille zum Weiterbauen am europäischen Haus kann den angerichteten Schaden reparieren und das verlorengegangene Vertrauen wiederherstellen.

Auch der aktuelle Gipfel hat gezeigt, dass die EU27 zusammenstehen. Ich empfinde es dabei nicht als großzügig, dass Theresa May den drei Millionen Unionsbürgern im Vereinigten Königreich ein Bleiberecht anbietet. Nice try! Die EU hat mehr zu bieten: elf Millionen Briten und Nordiren können in den EU27-Ländern bleiben! Das weiß die Premierministerin, aber sie sagt es nicht in die britischen Mikrophone. Es sind diese – nationalen! – Halbwahrheiten, die die Gipfelberichterstattung beeinflussen. Gerade Westminster hat dieses Spiel überdreht und zu unser aller Schaden verloren. Die Menschen in Europa werden aber nicht nur in London hinter die nationale Fichte geführt.

Und das liegt auch am medialen und technokratischen System „Europäischer Rat“. 2009 mussten die Außenminister den Gipfel verlassen. Seit 2009 herrschen mehr denn je in den europäischen Wohnzimmern 28 unterschiedliche Wirklichkeiten. Jede einzelne Wirklichkeit wird sorgsam geplant und zurechtgedreht in den Regierungszentralen der Hauptstädte – womit verdeckt wird, dass wir in der EU längst mehr Entscheidungsträger haben. Wir haben zwei Gesetzgebungskammern, Rat und Parlament. Wir haben eine junge und sicher nicht vollkommene europäische Demokratie. Aber solange sich ein großer deutscher Nachrichtenkanal noch immer weigert, Parlamentsdebatten aus dem EP live zu senden und der Rat als Kammer kaum in Erscheinung treten möchte, solange wird der EU-Gipfel weiterhin zu einer Tages-Show. Solange werden Herr Orban und andere es schaffen, mit Klagen in Luxemburg, aber eigentlich für die Kameras, die europäische Demokratie zu diskreditieren, indem sie demokratische Mehrheitsentscheidungen von Rat und Parlament als „Diktat“ bezeichnen. Absurd. Mediales Schaumschlagen gegen die EU soll eigene Defizite verdecken.

Aber in einem Punkt gebe ich den kleineren Ländern Recht: Die Großen dürfen es nicht mit einem arroganten Führungsanspruch übertreiben. Gerade hier in der italienischen Botschaft möchte ich herausstellen. So sehr wir begrüßen, dass nun endlich wieder in Paris frischer proeuropäischer Wind weht, so sehr wir uns freuen, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit wieder neuen Schwung aufnimmt: So sehr wünschen wir uns zwar einen starken deutsch-französischen Motor, aber kein Tandem oder ein Direktorat der Großen – nicht von Deutschland und Frankreich, aber auch nicht von Deutschland, Frankreich und Italien. Deswegen sind wir so dankbar für die österreichische, dänische und europäisch-griechischen Stimmen hier auf unserer Mitgliederversammlung. Was wir brauchen, ist eine intelligente Governance (Regierungskunst) in Europa, die möglichst öffentlich pluralistisch, demokratisch und parlamentarisch als Gemeinschaft der Vielen funktioniert.

Und das gilt im Übrigen auch in der deutschen Europapolitik! Lieber Herr Bundesaußenminister, lieber Sigmar, die EBD eignet sich natürlich nicht für Wahlkämpfe, aber dieses Jahr werden wir besonders genau hinschauen, was die Parteien in den Wahlprogrammen vorhaben. Und das ist bisher sehr ermutigend, jedenfalls was unsere Mitgliedsparteien anbelangt. Und es beruhigt, dass alle unsere Mitgliedsparteien derzeit miteinander koalieren können und so sicherstellen, dass die kommende Bundesregierung proeuropäisch wird.

Es braucht aber auch das richtige Instrumentarium für eine gute, überzeugende Europapolitik. So muss die neue Bundesregierung endlich das uralte, antiquierte System der Europakoordination modernisieren. Es produziert in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit immer wieder falsche Eindrücke. Ein Beispiel: Der mehrjährige Finanzrahmen für den EU-Haushalt wurde zwar federführend vom Auswärtigen Amt verhandelt – doch dann in der Nacht der langen Messer auf dem EU-Gipfel vollkommen intransparent durchgeboxt. (Übrigens: Die jüngsten Beschlüsse in der Großen Koalition zur Kohäsionspolitik passen in keiner Weise zur Forderung, dass auch der EU-Haushalt für große Herausforderungen fitgemacht werden muss.) Wenn Haushaltsdebatten im Bundestag eine Sternstunde der Demokratie sind, dann sind EU-Gipfelnächte demokratische Trauerspiele.

Übrigens hat, lieber Sigmar, der Vorstand der EBD vollkommen partei- und verbändeübergreifend beschlossen, dass die EU nur dann „groß im Großen“ handeln kann, wenn sie auch finanziell entsprechend besser ausgestattet ist. Die deutschen Nettozahlerdebatten sind absolut übertrieben und Europas wahren Problemen nicht angemessen. Ich weiß, dass wir da auf einer Linie sind!

Das sind zwar wichtige politische Forderungen. Aber gespielt wird auf dem Platz – und hier haben leider nur Wenige das Sagen. Es hat uns gewundert, dass der noch bestehende Koalitionsvertrag das alte Koordinierungssystem festschrieb, obwohl in der Europapolitik Parlament, Fachministerien und auch das Auswärtige Amt an Einfluss verloren haben, was nicht nur an ebenso notwendigen wie bewundernswerten (!) Euro-Krisenrettungsaktionen lag. Auch die für die deutsche Demokratie so wichtigen gesellschaftlichen Kräfte, die meisten sind bei uns Mitglieder, kennen die Defizite. Es fehlt schlicht der Zugang, die Offenheit. Auch die jetzige Bundesregierung tut nichts gegen die intransparente Trilog-Gesetzgebung. Sie tut auch nichts für wenigstens etwas mehr Transparenz im Rat der EU oder in der Ständigen Vertretung in Brüssel. Eigentlich (auch der Chef des Kanzleramtes weiß das als unser früherer Vizepräsident) müsste das Kanzleramt nach dem Europäischen Rat bei der EBD debriefen! Ich sage das mit allem Respekt für Ihr jetziges und früheres Haus.

Wir und unsere Partner wissen oft nicht, wie sich „unser Land“ positioniert, denn da wird ja mit so vielen Stimmen gesprochen. Es gibt absurde Häuserkämpfe zwischen den Ministerien. Es gibt sogar Ministerien, die ihre eigene Diplomatie betreiben und damit gleichzeitig dem Auswärtigen Amt Fachexpertise absprechen. Das Ganze hat auch eine europaweite Dimension. Zu kleine Länder, aber auch Parlamentarier bekommen oft keinen Termin im Kanzleramt.

Botschafter – selbst großer Länder – wissen weit weniger über die Europapolitik ihrer Regierungschefs als die Gipfel-Sherpas. Das bedeutet: Wir fahren auf zu vielen wichtigen Posten auf Sicht. Diplomatische Entscheider vor Ort, aber auch Parlamentarier stochern im Dunkeln. Das darf nicht sein! Ein zusammenwachsendes Europa kann nur dann gelingen, wenn Parlamentarier und Ansprechpartner befreundeter Staaten kommunikations- und dialogfähig sind.

Das Schlagwort „Sherpakratie“ ist in diesem Zusammenhang besonders zutreffend und es kommt – passend zum genius loci dieser Botschaft – aus Italien. Staatsminister Sandro Gozi prägte den Begriff der „Sherpacrazia“ als das Gegenteil von „Democrazia“. Wenn sich die Gipfel-Sherpas in den Staatskanzleien gegenseitig besser kennen als die Meinung der Parlamentarier und der gesellschaftlichen Kräfte in ihren jeweiligen Ländern, dann darf man sich nicht wundern, dass EU-Verträge, aber auch Handelsverträge „zuhause“ nicht akzeptiert werden.

Rechtzeitig vor dem heißen Wahlkampf werden wir unsere heute zu beschließenden Positionen präsentieren. Der Entwurf unserer Politischen Forderungen wendet sich auch direkt an Ihr Haus, Herr Bundesminister: „Die deutsche Diplomatie darf nicht nur eine klassische Außenpolitik vertreten, sondern muss in Form einer ‚European Public Diplomacy‘ über staatliche Akteurinnen und Akteure hinaus einen strukturierten europaweiten Dialog anbieten und fördern. Dabei gewonnene Erkenntnisse können auch die deutsche Europapolitik verbessern, wenn die neue Bundesregierung ihre europapolitische Koordinierung von Grund auf modernisiert und sie parlamentarisch und gesellschaftlich ausrichtet.“

In dieser Forderung steckt eine ganze Menge, das entscheidend ist für die Zukunft Europas.

Wenn wir es bei EU-Reformen so machen, wie von den Sherpas gewünscht, fallen wir in den wichtigen Debatten zur Zukunft der EU wieder in die alten Fehler zurück. Wir brauchen die breite Diskussion! Wenn Merkel und Macron sich einig sind, ist eben noch längst nicht alles gut. Denn dann wird passieren, was schon so oft passiert ist. Zu wenige werden überzeugt, und selbst technokratisch gute Lösungen von den Sherpas aus den Staatskanzleien schaffen Frust bei den Ungefragten. Noch schlimmer: Es entstehen Freiräume für extremen Populismus.

Die Gemeinschaftsorgane sind entscheidend für die EU. Wir brauchen keine übermäßige Gipfellitis. Ich erwarte von den Vertretern nationaler Regierungen, dass sie die pluralistische Demokratie – die sie repräsentieren und von der sie ihre Legitimation erhalten! – fördern und aktiv bewerben. Demokratie ist kein Lieferservice. Sie braucht Beteiligung und Engagement, aber man muss beides auch zulassen. Wenn man es ernstmeint mit der pluralistischen Demokratie, dann braucht sie gar nicht das einschränkende Adjektiv „national“.

Sehr verehrter Herr Minister, wir wünschen uns von Ihnen ein klares Bekenntnis für ein starkes Europäisches Parlament. Denn unsere Mitgliedsparteien bekennen sich zu den Spitzenkandidaten für die Wahl der kommenden Kommissionspräsidentin oder des kommenden Kommissionspräsidenten. Wir wollen ein solches Bekenntnis aber formal auch von der Bundesregierung, von der Bundeskanzlerin und vom Bundesaußenminister als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland. Was Italien mutig vorgemacht hat, kann Deutschland doch auch!

Die EBD steht für mehr Pluralismus, ja auch für Korporatismus wie schon lange erfolgreich praktiziert in der bedeutenden Sozialpartnerschaft. Parlament und Kommission gehen da den richtigen Weg für die europäische Demokratie. Die Mitgliedstaaten hinken hinterher!

Deutschland und Frankreich werden in den kommenden Monaten Vorschläge zur Reform der Europäischen Union machen. Die EBD bietet dabei bewusst keine einfachen Patentrezepte an. Wir kämpfen nicht für den einen großen Plan, sondern für demokratische Prinzipien und europäische Werte. Für Werte wie Solidarität! Ohne sie sind weder die Lasten in der Flüchtlingssituation zu schultern, noch unsere Außengrenzen zu schützen. Ohne sie können wir weder der Jugendarbeitslosigkeit wirksame Maßnahmen entgegensetzen noch den Klimawandel stoppen. Und wir wollen, dass die Demokratie auch auf europäischer Ebene verständlich bleibt: Noch mehr Budgets und Pöstchen dürfen das junge demokratische System nicht verschlimmbessern.

Der erst kürzlich leider verstorbene italienische Politikwissenschaftler Giovanni Sartori hat sinngemäß gesagt: Demokratie muss im Interesse der Vielfalt möglichst kompliziert, aber gleichzeitig noch für die Menschen erklärbar sein.

Genau so ist es!

Ich zähle auf die nächste Bundesregierung, dass sie alles tun wird für eine verständliche vielfältige europäische Demokratie!

Schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes (gleichzeitig Eltern der Europäischen Bewegung) waren sich einig: Wir sind „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Europa ist nicht nur deutsches Staatsziel. Es ist auch Auftrag für die deutsche Gesellschaft -also für jeden und jede von uns. Nehmen wir diesen Auftrag gemeinsam an.

Vielen Dank.