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  • 08.05.2020 - 11:36 GMT

Von Erzfeinden zu „cousins germains“ – wie Deutschland und Frankreich gemeinsam Europa voranbringen können

Statement der Präsidenten der Europäischen Bewegungen in Frankreich und Deutschland, Yves Bertoncini und Linn Selle

Berlin, 8. Mai 2020. „Mit Empathie und gegenseitigem Respekt gemeinsame Lösungen entwickeln, anstatt im jeweils anderen die Ursache des Problems zu sehen – das ist der Kern der Schuman-Erklärung, und er ist ein besonderer Auftrag gerade an unsere beiden Länder für die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Vielleicht bietet die Bewältigung der Pandemie ja doch noch den Impetus, die Europäische Union gemeinschaftlich zu stärken.“ In einer gemeinsamen Erklärung erläutern die Vorsitzenden der Europäischen Bewegungen in Frankreich und Deutschland, Yves Bertoncini und Linn Selle, welche Herausforderungen 75 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges auf die ehemaligen Erzfeinde für ein stärkeres Europa warten – und warum sie die Beziehung der beiden Länder lieber als „cousins germains“ bezeichnen denn als Motor.

Statement im Volltext:

Zwei bedeutende Jubiläen stehen dieser Tage eng beieinander: Heute, am 8. Mai, jährt sich das Ende des 2. Weltkrieges – der zuerst ein europäischer und ein deutsch-französischer war – zum 75. Mal. Morgen, am 9. Mai, ist es 70 Jahre her, das Robert Schuman seine berühmte Erklärung zur Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl abgab, deren Ziel es sein sollte, Krieg zwischen Deutschland und Frankreich „nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ zu machen. Auch wenn Deutschland und Frankreich seit 75 Jahren Frieden unter einander genießen, hat die Kriegsrhetorik im Zusammenhang mit der Eindämmung der Corona-Pandemie deutlich zugenommen. Und auch die Schutzmaßnahmen, die die Länder in Europa zu Beginn der Pandemie ergriffen, scheinen komplett aus der Zeit gefallen, weil die europäischen Staaten jeweils nur auf sich selbst schauten, Grenzen unilateral dichtmachten und Schutzmaterial horteten. Auch wenn einzelne Beschränkungen des Binnenmarktes inzwischen wieder aufgehoben sind: Die Grenzübergänge zwischen Deutschland und Frankreich etwa sind nach wie vor deutlich mehr Grenze als Übergang. Dem 25. Jahrestag des Schengener Abkommens – eine der größten Errungenschaften Europas mit deutsch-französischer Handschrift – haben wir, so traurig das ist, hinter geschlossenen Grenzbäumen gedacht.

Dabei lehrt uns die Corona-Krise vor allem eins: Eine Pandemie braucht paneuropäische Lösungen. Es ist gut, dass sich die Führungsspitzen der EU-27 mittlerweile auf ein Rettungspaket und einen Fahrplan für die Erholung einigen konnten, auch wenn einige Regierungen in den dahinführenden Verhandlungen ihre Differenzen allzu deutlich hervortreten ließen. Allerdings liegt ein Großteil der Arbeit noch vor uns:

  • Wir müssen die Erosion des Schengen-Raums beenden: Wir rufen die französische und die deutsche Regierung dazu auf, sich gemeinsam mit ihren europäischen Partnern bei der Lockerung ihrer Schutzmaßnahmen eng abzusprechen und Grenzkontrollen so schnell wie möglich abzuschaffen.
  • Wir brauchen Investitionen für einen fairen Wiederaufschwung: Dazu braucht es einen auf über 1 Prozent des BNE aufgestockten Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) der EU, der stärker auf die Zukunftsaufgaben der EU ausgerichtet ist. Der vorgeschlagene Wiederaufbaufonds sollte integraler Teil des MFR werden, damit die demokratische Kontrolle über die Investitionen durch das Europäische Parlament gewährleistet bleibt.
  • Wir müssen die Eurozone fit für die neuen Herausforderungen machen: Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich, dass eine Währungsunion wie die Eurozone finanzpolitische Integrationsschritte nicht alleine der EZB überlassen darf. Wir ermuntern daher die Regierungen unserer Länder, die Debatte um Reformen der Eurozone im Sinne stärkerer europäischer Solidarität bei größerer nationaler Verantwortung voranzutreiben.
  • Wir brauchen in Krisenzeiten nicht weniger Demokratie, sondern mehr: Wenn unter dem Deckmantel von Schutzmaßnahmen nationale Regierungen das gemeinsame Wertefundament der EU angreifen, dann darf uns das nicht kalt lassen. Die EU-27 müssen dafür den Rechtsstaatsmechanismus nach Artikel 7 des EU-Vertrags konsequent zur Anwendung bringen und den Vorschlag der Kommission unterstützen, Zahlungen aus dem EU-Haushalt an die Einhaltung demokratischer Standards zu koppeln. Außerdem brauchen wir ein neues Instrument, um den Status quo bei Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten in den Mitgliedstaaten zu überwachen.
  • Wir müssen die Diskussion über die Zukunft Europas gestalten: Auch das größte Rettungspaket wird die nächste Krise nicht verhindern, wenn wir die Fehler der vergangenen Wochen nicht zum Anlass nehmen, Solidarität und Demokratie in der EU sowie die wichtigsten Zukunftsprojekte der Union zu diskutieren. Am 9. Mai hätte die Konferenz zur Zukunft Europas starten sollen, ein auf zwei Jahre angelegter Diskussionsprozess unter nationalen und europäischen Akteurinnen und Akteuren aus Politik und Gesellschaft. Auch wenn die Pandemie den Start nun verschoben hat: Eine Debatte über die Zukunft der EU muss rasch nach Ende des Kontaktverbotes stattfinden. Mit Blick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab Juli und die französische zwei Jahre später sind die Regierungen beider Länder besonders gefordert, Impulse für einen offenen und ehrlichen Dialog über Europa zu führen.

Das erfordert beiderseits des Rheins viel Einsatz und Dialog, um die Position des jeweils anderen zu verstehen und sich vereinfachenden Stereotypen zu widersetzen. Ein solches ist übrigens auch der „deutsch-französische Motor“. Wir wünschen uns von unseren Regierungen einen erwachseneren Umgang miteinander – in etwa so, wie auch Cousinen oder Cousins (cousins germains) miteinander umgehen würden: Man ist eng verwandt, aber auch innerhalb einer Familie sind unterschiedliche Interessen und Befindlichkeiten normal. Da gibt es vielleicht mal Streit, aber wenn es hart auf hart kommt, hält man zusammen – so wie in einer funktionierenden Familie üblich. Bei vielen Themen wie der Rüstungspolitik, der Migration, der Governance in der Eurozone oder dem EU-Haushalt wird mit viel Pathos verschleiert, dass man sich nicht einig ist. Das verzögert Prozesse und trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. 

Mit Empathie und gegenseitigem Respekt gemeinsame Lösungen entwickeln, anstatt im jeweils anderen die Ursache des Problems zu sehen – das ist der Kern der Schuman-Erklärung, und er ist ein besonderer Auftrag gerade an unsere beiden Länder für die kommenden Jahre und Jahrzehnte. Vielleicht bietet die Bewältigung der Pandemie ja doch noch den Impetus, die Europäische Union gemeinschaftlich zu stärken.  

Die französische Version des Statements ist auf der Website der Europäischen Bewegung Frankreich erschienen.


Pressekontakt:
Karoline Münz |  stv. Generalsekretärin
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