Was die „Wendekinder“ Europa zu geben haben | Adriana Lettrari im Interview
Am 8. November erhält Adriana Lettrari den Preis Frauen Europas für ihr ehrenamtliches Engagament im Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland: „Adriana Lettrari ist es gelungen, der Generation der Wendekinder eine Stimme zu geben und diese für Europa fruchtbar zu machen“, so begründet die Europäische Bewegung Deutschland die Vergabe des Preis Frauen Europas 2016 an die Politikwissenschaftlerin. 2009 hat Adriana Lettrari die 3te Generation Ostdeutschland gegründet, ein Netzwerk, das zunächst die Wendeerfahrung junger Ostdeutscher in vielfältiger Weise aufarbeitet und dann der europäischen Dimension stellt. Lettrari: „Wir teilen mit der gleichaltrigen Generation in den osteuropäischen Nachbarstaaten die Erfahrung eines rasanten und zumeist geglückten Wandels. Dieser Erfahrungskompetenzen gilt es sich bewusst zu werden und sie zu für ein gemeinsames vitales Europa des 21. Jahrhunderts zu aktivieren.“ Was die „Wendekinder“ mit ihrer besonderen Sozialisierung für Europas Zukunft tun können, erklärt Adriana Lettrari im Interview:
Wie kamen Sie dazu, das „Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland“ zu gründen?
Adriana Lettrari: Das Netzwerk „3te Generation Ostdeutschland“ ist im Jahr 2009 aus einem Ärgernis heraus entstanden. Bei den Festivitäten zu 20 Jahren „Friedlicher Revolution“ meldeten sich fast ausschließlich ältere Herren zu Wort. Über Ostdeutsche und Ostdeutschland sprachen entweder die DDR-Opas oder westdeutsche Onkels. Wir „Wendekinder“ fragten uns: Warum sieht man eigentlich unsere Eltern nicht? Wir hatten Sorge, dass sich die Sprachlosigkeit der Elterngeneration möglicherweise auf uns Kinder übertragen würde. Das wollten wir nicht länger mit ansehen und haben uns durch unser Netzwerk in den letzten sechs Jahren aus einer persönlichen, zivilgesellschaftlichen, medialen und wissenschaftlichen Perspektive des Themas angenommen – mit großem Erfolg.
„Es tut unserem Land gut, wenn die heute 30-Jährigen zwischen Schwerin und Rostock laute Fragen stellen“, sagt Bundespräsident Joachim Gauck zu Ihrer Initiative. Welche Fragen treiben Sie um, Frau Lettrari?
Adriana Lettrari: Mich treibt eine konkrete Frage um: Welche Rolle spielt die einstige Teilung des europäischen Kontinents im Leben der Kinder der Friedlichen Revolution 1989 und welche Rolle ergibt sich für sie als Europäerinnen und Europäer? Ich bin in Neustrelitz geboren und in Rostock aufgewachsen und habe die deutsche Teilung und die Spaltung Europas und der ganzen Welt durch den Eisernen Vorhang noch als Kind miterlebt. Meine prägenden Jugendjahre verbrachte ich wie die Mehrzahl der 2,4 Millionen heute 30- bis 40-jährige „Wendekinder“ im wiedervereinigten Deutschland. Wer zwischen 1975 und 85 in der DDR zur Welt kam, ist in zwei politischen Systemen aufgewachsen: in der DDR geboren und in einem geeinten Europa erwachsen geworden. Sie haben zwei kulturelle Sprachen gelernt. Durch diese Entwicklung sind sie zu Vermittlern zwischen zwei Welten geworden. Veränderungen und Krisen sind ihnen bekannt – sie wissen, dass plötzlich alles ganz anders kommen kann und verfügen über die Kompetenz und Widerstandskraft, Veränderungen mitzugestalten: eine Transformationskompetenz! Durch das „Netzwerk 3te Generation Ostdeutschland“ lassen wir diese spezifischen Erfahrungen und Fähigkeiten der Wendekinder sichtbar werden, nicht nur als Last, sondern als Chance, denn die Wendekinder eint eine doppelte Sozialisation – ähnlich der von Diplomatenkindern. Durch die unterschiedliche Sozialisierung in Ost und West vereinen die Wendekinder in ihrer Person das, was dem heutigen und zukünftigen Europa inhärent ist: die Summe einer ost- und westeuropäischen kulturellen Identität. Sie sind „Third Culture Kids“.
Gibt es einen spezifisch ostdeutschen Input für das Projekt EU?
Adriana Lettrari: Wir Wendekinder teilen mit der gleichaltrigen Generation in den osteuropäischen Nachbarstaaten die Erfahrung eines rasanten, tiefgreifenden und zumeist geglückten „Wandels“. Angekommen in den Mittdreißigern und mit zunehmendem Erfolg in unserem beruflichen und ehrenamtlichen Engagement steigt für unsere Generation unsere Verantwortung für Europa. „Wendekinder“ und ihre osteuropäischen Gleichaltrigen sind ausgesprochen wandlungserprobt – wir rechnen täglich mit dem Unvorhersehbaren. Wir fangen einfach an und kreieren Neues aus einer Krise. Unsere Pfade sind nicht linear, wir scheitern und versuchen es erneut. Persönliche soziale und kulturelle Hürden zu überwinden, um sich über sich selbst hinaus zu entwickeln und seinen Fußabdruck in der Welt zu hinterlassen ist möglich – wir haben es erfahren und ermutigen alle, sich aufzumachen, ihren Weg zu gehen. Dieser Erfahrungskompetenzen gilt es sich bewusst zu werden und sie zu für ein gemeinsames vitales Europa des 21. Jahrhunderts zu aktivieren.
Europa in seiner Komplexität überfordert viele Menschen. Muss man Europastudien an der Uni belegen, um zu begreifen, wie die EU funktioniert?
Adriana Lettrari: Ich hätte Freude daran, eine Reise im Raumschiff Enterprise durch Europa anzubieten: „Europa, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2016. Dies sind die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise, das unterwegs ist, um fremde Orte zu erforschen, neue Länder und neue Kulturen. Viele Lichtjahre von dem eigenen Zuhause entfernt dringt die Enterprise in die Europäische Union ein, die der Reisende nie zuvor gesehen hat.“ Übertragen wir diese Metapher auf die Lebenswelt vieler Europäerinnen und Europäer so wäre durch eine solche Bildungsreise für sie möglich, Europa konkret zu erfahren und zu entdecken. Europa lässt sich kaum abstrakt verstehen, sondern im Grunde nur persönlich erfahren.
Wie kann man das „Die EU ist blöd“-Argument aus der Welt schaffen?
Adriana Lettrari: Gar nicht. In jedem System wird es Widerständler geben. Sie haben die wichtige Rolle, dass sich all jene, welche die Mehrheit eines Systems bilden, immer wieder neu überprüfen: an welcher Stelle müssen sie sich und das System einen Schritt nach vorne entwickeln, wen haben sie vergessen zu integrieren in den Entwicklungsprozess, von welchen Aspekten muss man sich gegebenenfalls verabschieden? Ein System ohne Widerstand ist/wäre nicht entwicklungsorientiert.
26 Jahre nach dem Mauerfall: Welche Rolle spielt die einstige Teilung des Kontinents noch heute in unseren Köpfen?
Adriana Lettrari: Die Europäische Union hat 338,47 Millionen Köpfe. Jeder einzelne hat eine biographische Geschichte und in Abhängigkeit des Alters mehr oder weniger persönliche Erfahrungen mit der einstigen Teilung des Kontinents. Die individuelle Aufarbeitung und die daraus folgenden Einsichten bestimmen die Perspektive auf das Gestern, Heute und Morgen. Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja wie diese Perspektiven in die konstruktive Gestaltung eines gemeinsamen Europas münden. Hier glaube ich, liegt noch vieles im Verborgenen. Es haben sich meines Erachtens noch nicht alle Europäerinnen und Europäer auf den Weg gemacht, um dazu beizutragen, dass sich Teilung, Mauern und Grenzen nicht wiederholen. Dass Ost, West, Nord und Süd sich nicht bewertend gegenüberstehen sondern der besondere Wert aus der Summe der Einzelteile in seinem Ganzen hochgeschätzt wird.
Welches ist Ihre Vision von der künftigen Gestalt Europas? Wie soll, wie wird Europa in zehn Jahren aussehen?
Adriana Lettrari: Das Europa des 21. Jahrhunderts kennt keine Grenzen und Mauern. Europäerinnen und Europäer orientieren sich daran, wo eine Person hin will und nicht woher sie kommt. Ihre Lebenswirklichkeiten sind weiter als der Ort, an dem sie sich gerade befinden. Sie sind sich ihrer Wurzeln bewusst und setzen sich mit ihnen auseinander, um die Zukunft zu gestalten. Sie bauen Brücken in dem sie länder- und generationsübergreifend Begegnungen und Gespräche suchen. Die Vielfalt ist für Europäerinnen und Europäer der Alltag, den sie leben. Unterschieden begegnen sie mit Neugier, nicht mit Angst.
Was bedeutet Ihnen der Preis „Frauen Europas“?
Adriana Lettrari: Die Nachricht erreichte mich im Jubiläumsjahr 25 am Tag des Mauerfalls und stellt eine ausgesprochen große Ehre für mich dar. Ich empfinde diese Auszeichnung stellvertretend für die vielen engagierten Menschen in Ost- und Westdeutschland sowie vielen anderen Ländern als eine hohe Anerkennung für ein neues pluralistisches Selbstverständnis der heute 30- bis 40jährigen in Europa. Sie sind die zukünftigen Entscheiderinnen und Entscheider; aus diesem Grund ist ihre Wertorientierung von herausragender Bedeutung und bekommt durch diesen Preis eine Wertschätzung, die uns weiter vorantreibt.
Das Gespräch führte Ina Weinrautner.
Der Festakt zum Preis Frauen Europas findet am 8. November statt. Zur Pressemitteilung
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