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Wirtschaft & Finanzen

BDI: Präsident Grillo zu Chancen und Herausforderungen für Europa nach den Wahlen

BDI-Präsident Ulrich Grillo zu Chancen und Herausforderungen für Europa nach den EU-Parlamentswahlen und im Lichte der neu zu besetzenden EU-Kommission:

"Auch nach den Wahlen zum Europäischen Parlament befindet sich unser Kontinent noch längst nicht in dem Zustand, der wünschenswert und erforderlich ist. Europa nimmt die wirklich drängenden Zukunftsherausforderungen kaum in den Blick. Noch immer ist fast jeder vierte arbeitswillige Jugendliche ohne Job; die Staatsverschuldung steigt in den meisten Ländern; 2050 wird aller Voraussicht nach kein einziges europäisches Land mehr zu den sieben größten Volkswirtschaften weltweit zählen.

Unser Kontinent hat keine Zeit für interinstitutionelles und politisches Hick-Hack oder einen Rückzug in nationale Wagenburgen: Europa braucht Reformen – jetzt! Deshalb fordere ich: Nach einer halben Dekade der Krise und der Rettungspolitik muss ein konstruktives Arbeitsprogramm für die neue Kommission entwickelt werden, das Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum anpeilt und verwirklicht. Dabei muss allen klar sein: Wettbewerbsfähigkeit ist kein Selbstzweck, sondern unabdingbare Voraussetzung dafür, dass Europa am globalen Wachstum teilnimmt. Nur so werden wir uns unseren europäischen Lebensstandard auf Dauer leisten können. Eine positive Wachstums-
agenda für Europa sollte fünf Prioritäten umfassen:

Erstens: Europa braucht eine umfassende Investitionsoffensive. Sie schafft Wachstumspotenzial und Arbeitsplätze. Berechnungen der Europäischen Investitionsbank zufolge müssten mindestens 470 Milliarden Euro jährlich in die Energie-, Transport- und Datennetze in Europa investiert werden. Mir geht es ausdrücklich nicht um eine Aufweichung des Stabilitäts- und Wachstumspakts: Alles, was über die bereits bestehende Flexibilität hinausgeht, bedroht die notwendige Konsolidierung. In den nationalen Haushalten sind durch eine qualitative Konsolidierung – ein Umschichten von konsumtiven zu investiven Ausgaben – Spielräume für eine investitionsorientierte Wachstumspolitik zu schaffen. Der Aufwand lohnt sich: Schätzungen des EU-Parlaments zufolge könnte allein ein funktionierender digitaler Binnenmarkt 260 Milliarden Euro an Effizienzgewinnen in den nächsten Jahren bringen.

Zweitens: Ich fordere mehr Konvergenz zwischen Industrie-, Energie- und Klimapolitik in Europa. Europa muss seine Stärken ausbauen – etwa die Industrie im Kern unseres Kontinents, die uns aus der jüngsten Krise befreit hat. Deshalb muss das
20-Prozent-Industrieanteilsziel für die neue Kommission gesetzt sein. Not tut vor allem eine wirklich europäisch ausgerichtete Energie- und Klimapolitik Richtig ist, das europäische Emissionshandelssystem als Leitinstrument der Klimapolitik in der EU wie in Deutschland zu etablieren.

Drittens: Die Eurozone muss den eingeschlagenen Reformweg konsequent fortsetzen. Die EZB-Entscheidung für niedrigste, teilweise negative Zinsen ist ein Alarmsignal an die Politik. Ich bin überzeugt, dass die Geldpolitik die Versäumnisse der Regierungen nicht auf Dauer ausgleichen kann. Es sind die Regierungen, die Strukturreformen schneller umsetzen müssen, damit die Länder wettbewerbsfähiger werden. Deshalb fordern wir im BDI, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) mit Kompetenzen für Wettbewerbsfähigkeit, Haushalts- und Fiskalpolitik auszustatten.

Viertens: Die EU muss TTIP als große Chance für Wachstum und Beschäftigung in Europa konsequent nutzen. In der aktuellen Debatte wird gern vergessen: Die USA sind der mit Abstand größte Exportmarkt der EU. Deshalb sollte die Politik sich für TTIP als eine umfassende Marktöffnung einsetzen. Durch regulatorische Zusammenarbeit kann TTIP unnötige Transaktionskosten vermeiden. Der hohe europäische Schutzstandard im Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitsrecht darf dadurch nicht in Frage gestellt werden.

Fünftens: Innerhalb der EU-Kommission muss sichergestellt werden, dass alle neuen politischen Initiativen und Gesetzesvorschläge systematisch auf ihre Wettbewerbsfähigkeitswirkungen und Kohärenz geprüft werden. Daran mangelt es bisher. Die inhaltliche Neuausrichtung der EU-Institutionen auf Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Arbeitsplätze muss sich auch in der strukturellen und personellen Neuaufstellung der EU-Institutionen niederschlagen. Der BDI unterstützt den Vorschlag, innerhalb der Kommission für mehr Kohärenz zu sorgen.

Der Rat für Wettbewerbsfähigkeit sollte deutlich aufgewertet und zum zentralen Wächter für Wettbewerbsfähigkeit in der EU werden. Er sollte ein wirkliches Mitspracherecht erhalten. Dazu sollte er mit einem permanenten Präsidenten ausgestattet werden, der sich bei seiner strategischen Arbeit auf eine schlagkräftige hochrangige Gruppe für Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum stützen kann.

Nur wenn Europa die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs rasch annimmt und sich programmatisch, strukturell und personell darauf einstellt, werden wir in den nächsten fünf Jahren Wachstum und Arbeitsplätze schaffen. Europa hat die Wahl: Wir werden gemeinsam in Europa erfolgreich sein – oder getrennt in Bedeutungslosigkeit versinken."