Bertelsmann Stiftung: Alfred Nobel hätte der EU seinen Preis verliehen
Die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union hat unter ihren 500 Millionen Bürgern Überraschung und höchst unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Während Europas politische Eliten die diesjährige Entscheidung des Osloer Komitees mehrheitlich begrüßten, fielen die Reaktionen in der Bevölkerung vielfach deutlich skeptischer aus.
Die krisengeschüttelten Griechen, Spanier und Portugiesen zeigten eher wenig Verständnis, und in Blogs und Foren hat sich europaweit ein Sturm der Entrüstung entladen. Selbst ehemalige Nobelpreisträger fordern, das Osloer Komitee möge seine Entscheidung zurücknehmen. Im Zentrum der Kritik steht der Vorwurf, dass jüngste Entwicklungen in der EU nicht zu einer weiteren Befriedung, sondern zu Streit und Uneinigkeit unter ihren Mitgliedern geführt hätten.
Heute werden die Präsidenten der Europäischen Kommission, des Rates und des Parlaments den Preis in Oslo dennoch entgegennehmen. Und zwar zu Recht, wie ich behaupte. Ein Blick auf die drei, von Alfred Nobel selbst festgesetzten Kriterien, die ein Preisträger erfüllen soll, macht dies deutlich. Nach Vorstellung des Stifters verdient jener den Preis, der erstens „auf die Verbrüderung der Völker“, zweitens „die Abschaffung oder Verminderung stehender Heere“ und drittens „das Abhalten oder die Förderung von Friedenskongressen“ hinwirkt. Wie verdient hat sich die EU also in den vergangenen Jahrzehnten um diese drei Forderungen gemacht?
Kaum jemand würde heute den Beitrag der EU zur Völkerverständigung in Abrede stellen. Das Nobelpreis-Komitee hat dies mit seinem Hinweis auf die deutsch-französische Aussöhnung nach 1945, die in dieser Form wohl nur im europäischen Rahmen stattfinden konnte, verdeutlicht. Dass Ost und West heute gemeinsam am Brüsseler Verhandlungstisch sitzen, hätte vor rund 25 Jahren kaum jemand für möglich gehalten. Auch hierauf weist das Osloer Komitee hin.
Gegen die Kritik etwa von Nobelpreisträger Desmond Tutu, die EU sei „kein Vorkämpfer für den Frieden“, lässt sich eine ganze Reihe guter Einwände vorbringen. Die größte Leistung der Union, so liest man zu Recht in der Begründung des Nobelpreis-Komitees, sei die Verhütung von Krieg in einem bis 1945 kriegszerrütteten Europa. Allein die Jugoslawienkriege von 1991-1999 stellen hier eine traurige Ausnahme dar. Dass diese Kriegsverhütung keine Selbstverständlichkeit ist, kann gar nicht oft genug ins öffentliche Bewusstsein gerufen werden. Allein von 1800 bis 1945 fanden in Europa mehr als 100 kriegerische Auseinandersetzungen statt, von denen der Erste und der Zweite Weltkrieg die unheilvollen Tiefpunkte darstellen. Und auch wenn wir die eurozentrische Perspektive verlassen, bietet sich ein positives Bild. Die heute in Europa bestehenden militärischen Kapazitäten dienen gemäß dem europäischen Verfassungswerk und ganz im Geiste Alfred Nobels den Zielen der „Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit“. Und selbst im engeren Wortsinn Alfred Nobels besitzt die EU als einziger globaler Akteur das Potential, die Forderung zumindest nach einer „Verminderung stehender Heere“ zu erfüllen. So strebt die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU das Ziel einer „gemeinsamen Verteidigung“ durch multinationale Streitkräfte, d.h. einer Integration und folglich Reduzierung bestehender nationaler militärischer Ressourcen an, die nicht mehr in Feindschaft gegeneinander eingesetzt werden können.
Was letztlich die „Förderung von Friedenskongressen“ betrifft, so erfüllt der jahrzehntelange Einsatz der EU für eine multilaterale Diplomatie mit Sicherheit Alfred Nobels Forderung. Und auch ganz konkret wirkt die EU an der Schaffung einer internationalen Friedensordnung mit: So etwa als Teil des Nahost-Quartetts, das sich um einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern bemüht.
Nach Maßgabe Alfred Nobels hat also die EU den Friedensnobelpreis verdient. Doch sie erhält die große Auszeichnung nicht zufällig in der Zeit ihrer bislang schwersten Krise. Denn der Preis ist auch ein Signal, dass sich die Union trotz ihrer wichtigen Verdienste nicht auf vergangenen Leistungen ausruhen darf. Dass sie Frieden geschaffen hat, heißt nicht automatisch, dass auch ihre Bürger rundum zufrieden sind: Nach einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung glauben 48% der Deutschen, dass der soziale Friede durch die EU eher unsicherer geworden sei. Solch alarmierende Zeichen müssen ernst genommen werden. Der Preis wird daher seinen vollen Wert erst dann erfüllen, wenn er heutigen und künftigen europäischen Führungspersönlichkeiten ein Ansporn und Anreiz zu einem neuen, ehrgeizigen Ziel ist: Den Vereinigten Staaten von Europa.