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Bertelsmann Stiftung: Manifest des Pariser Wirtschaftsforums für eine solidarische und integrierte Eurozone

Wir Frauen und Männer unterschiedlicher Nationalitäten und Vorstellungen, die wir am Europäischen Wirtschaftsforum (Entretiens Economiques Européens) in Paris teilnehmen, verpflichten uns hiermit, die Anstrengungen zur Rettung der Währungsunion und zur Wiederbelebung der europäischen Integration zu unterstützen. Heute haben fast alle europäischen Staaten Probleme mit der Finanzierung ihrer Staatsschulden, die Zinsen steigen und das Wachstum gerät ins Stocken.

Eine Strukturreform der Eurozone ist dringend notwendig, um diese auf eine Basis der Solidarität zu stellen und regierungsfähig zu machen. So können wir die Märkte beruhigen und die Staatskassen sanieren. Hierzu müssen zuerst die Wettbewerbsfähigkeit und das nachhaltige Entwicklungspotenzial ganz Europas wiederhergestellt werden. Wie können wir unsere Kräfte vereinen, um gemeinsam die Initiative zu ergreifen und sie erfolgreich in die Tat umzusetzen? Die engagiertesten Politiker mit der stärksten Überzeugung müssen die Verantwortung übernehmen, aber ganz allein können sie das nicht schaffen: Dafür wollen wir alle gemeinsam kämpfen. Die Mobilisierung der Bürger auf lokaler und nationaler Ebene und ihre vereinten Anstrengungen auf Gemeinschaftsebene werden die Grundlage für den Erfolg bilden.
Einen Vertrag für die Eurozone unter Beteiligung der Beitrittskandidaten aushandeln
Die führenden deutschen Politiker haben erneut die Verankerung ihres Landes in der Europäischen Gemeinschaft bekräftigt und rufen zur Stärkung der wirtschaftlichen und politischen Integration auf. Ein gemeinsamer deutsch-französischer Vorschlag zur Reform der europäischen Verträge wird auf dem Gipfel am 9. Dezember 2011 präsentiert werden, um den Weg zu einer Finanz- und Fiskalunion zu ebnen. In diesem Zusammenhang werden zahlreiche Vorbehalte und viel Widerspruch geäußert, dennoch ist dieses Ziel unverzichtbar. Der Vertrag von Lissabon allein macht nicht einen ersten wichtigen Schritt möglich. Daher wünschen wir uns, dass alle Länder, die den Euro eingeführt haben oder ihn einführen wollen, darauf positiv reagieren und ihre eigenen Optionen vorstellen. Denn natürlich müssen die Ziele der Reform noch genauer präzisiert werden.
Unserer Meinung nach müssen Integration und Solidarität zum Ausdruck gebracht werden, und außerdem muss der Kern des Kompromisses im Rahmen eines ersten Schrittes die Schaffung von Eurobonds als Gegenleistung für eine verstärkte Haushaltsdisziplin sein.
Der Europäische Rat könnte im Dezember 2011 die Abhaltung einer Regierungskonferenz der Mitgliedstaaten mit einem Hauptziel, nämlich der Konsolidierung der Eurozone, beschließen. Darum werden die Verhandlung und die Entscheidung, die zu einem Vertrag über eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) führen müssen, im Kreise der Mitgliedstaaten stattfinden, wobei jedoch die Beitrittskandidaten, die dazugehören und zur Solidarität beitragen wollen, miteinbezogen werden. Ein zweites Ziel der Konferenz wird ein besserer Zusammenhalt der gesamten EU sein, über die die 27 Mitgliedstaaten entscheiden werden. Sie werden versuchen, eine Abmachung zu treffen, damit die Neugestaltung des großen Binnenmarktes und die Haushaltsreform auf dem Gleichgewicht gemeinsamer Interessen aufbauen.
Drei Pfeiler zur Rettung der Eurozone
Die Konsolidierung der Eurozone kann auf drei Pfeilern aufbauen. Der erste – und das ist durch den Ausbruch der Krise der Staatsanleihen deutlich geworden – besteht darin, eine gemeinsame Finanzpolitik zu etablieren. Seit dem Vertrag von Maastricht steht die Währungsunion auf wackligen Füßen: eine gemeinsame Währung, aber zerstückelte und voneinander abweichende Finanzpolitiken. Durch die Ausgabe von Eurobonds und die Schaffung eines großen Binnenmarktes für diese Anleihen wird es möglich sein, einen Teil der Finanzierung der Staatsanleihen gemeinsam zu schultern. So können die Störungen auf den Finanzmärkten beseitigt werden und die Staaten wieder die nötige Zeit für schwierige Reformen finden. Die unerlässliche Bedingung einer solchen gemeinsamen Risikoübernahme, die von Deutschland gefordert wird, ist die Disziplin jedes einzelnen Mitgliedstaates und eine zentrale Überwachung der Sanierung der nationalen Staatsfinanzen, wobei deren Planung so gestaltet werden muss, dass sie nicht zu einer Rezession führt. Auf der anderen Seite muss die Eurozone den Schulterschluss suchen, um zu erreichen, dass der Haushalt der Gemeinschaft sie mit Eigenkapital ausstattet und damit einen Hebel für die wirtschaftliche Entwicklung schafft, der die Wiederbelebung der Investition in Human- und Produktivkapital zum Ziel hat. Es ist bekannt, dass sich Deutschland und andere Mitgliedstaaten gegen eine Änderung des EZB-Mandats aussprechen. Bei dieser Sachlage erlauben es die Anforderungen der finanziellen Stabilität nicht, die Rolle der Währungspolitik unverändert zu lassen. In jedem Fall muss Übereinstimmung zwischen der Währungs- und der Haushaltspolitik hergestellt werden, während die nationalen Bankensysteme harmonisiert werden müssen.
Der zweite Pfeiler zur Konsolidierung der WWU ist die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit und des Wachstumspotenzials aller Mitgliedstaaten. Die unterschiedliche Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten ist nämlich der wahre Grund für den Zerfall der Eurozone. Jeder Mitgliedstaat mit Problemen, insbesondere Frankreich, das sich dessen nicht ausreichend bewusst ist, muss tiefgreifende strukturelle Anpassungen vornehmen, die vornehmlich auf die Wiederherstellung der Industrie und der beruflichen Kompetenzen abzielen. Das aber kann kein Land ohne eine starke Zusammenarbeit schaffen. Der Euro-Plus-Pakt, der im März 2011 geschlossen wurde, ist nicht ausreichend. Projekte und Ressourcen müssen gebündelt werden. Vor dem Hintergrund der Einführung von Eurobonds auf dem großen Binnenmarkt können die europäischen Staatsanleihen auch zur Finanzierung langfristiger Investitionen für ein nachhaltiges Wachstum verwendet werden.
Der dritte Pfeiler ist eine gewaltige und solidarische soziale Investition. Die Referenzpunkte der sozialen Marktwirtschaft dürfen nicht die Notwendigkeit einer großen Erneuerung verschleiern. Die sinnvollen Ziele der Europa-2020-Strategie müssen von den entsprechenden Taten begleitet werden. Wir möchten, dass die Motivationen und die Art der Beteiligung der wirtschaftlichen und sozialen Akteure formuliert werden, die das Erreichen eines neuen sozialen Wohlstands möglich machen werden: Erneuerungen im Bereich Ausbildung und Arbeit, eine bessere Verwendung der Humankapazitäten, die Integration junger Menschen in den Arbeitsmarkt und die Begleitung beruflicher Übergänge.
Um diese drei Pfeiler in die Realität umzusetzen, muss eine Regierung in der Lage sein, die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Eurozone zu fördern. Wir sind der Meinung, dass man mit der Einrichtung eines europäischen Wirtschafts- und Finanzministeriums beginnen könnte, das von den Vertretern der Kommission und der betreffenden Staaten gemeinschaftlich geleitet würde und das mit qualifizierter Mehrheit entscheiden und unter der Kontrolle des Europaparlaments sowie der nationalen Parlamente stehen würde.
Ein Pakt zur Erneuerung des Binnenmarktes und zum Zusammenhalt der EU
Großbritannien und ein paar wenige andere Staaten möchten die vollständige Unabhängigkeit ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik bewahren. Da sie versuchen, all ihre nationalen Interessen in einer Eurozone zu schützen, über deren Konsolidierung sie nicht verhandeln werden können, erklären sie, dass sie die Integrität des gemeinsamen Binnenmarktes verteidigen wollen. Wenn diese Integrität nun aber bedroht ist, dann wegen des fehlenden Zusammenhalts aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei der Liberalisierung der Finanzmärkte und eines Wettbewerbs, in dem keinerlei Ausgleich durch Zusammenarbeit stattfindet. Die Reform der Regulierung und Überwachung der Finanzmärkte und die Erneuerung des großen Binnenmarktes müssen darauf abzielen, diese Störungen zu korrigieren, die Ziele der Stabilität und eines dauerhaften, nachhaltigen Wachstums zu verfolgen und den Zusammenhalt zu stärken. Wir verpflichten uns, die Anstrengungen der Kommission und des Parlaments bekanntzumachen, uns noch mehr zu engagieren und an einer neuen Phase dieser Aufgaben zu beteiligen, die insbesondere auf die langfristige Finanzierung, die Finanztransaktionssteuer sowie die Umwandlung des großen Binnenmarktes in eine Art „Basislager“ der europäischen Unternehmen in der Globalisierung ausgerichtet sind.
Sofortiger Schutz
Verhandlungen über eine solide Architektur der Eurozone werden nicht ohne starke politische Spannungen einhergehen. Gleichzeitig werden sie jedoch eine Garantie für einen neuen kollektiven Willen der EU-Staaten darstellen und damit ein starkes Zeichen für die übrige Welt und die Märkte setzen. Dieser Prozess muss von außergewöhnlichen Maßnahmen mit Übergangscharakter unterstützt werden. Die EZB wird mehr Staatsanleihen auf den Sekundärmärkten ankaufen, ohne dass es jedoch zu einer monetären Finanzierung dieser Anleihen kommt. Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität wird so umgestaltet, dass sie andeutungsweise die Schaffung eines echten Europäischen Währungsfonds vorwegnimmt. Die Kommission wird einen Plan zur Wiederbelebung der Investition und sozialen Aktion vorschlagen, um eine Verschärfung der Situation durch Entlassungen und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Die Mechanismen zur sozialen Abfederung, die seit 2008 gegriffen haben, reichen nicht aus. Die Ausbildung und Neuqualifizierung von jungen Menschen und Arbeitern muss gefördert werden, außerdem muss ein Beschäftigungsmotor zur Vorbereitung der neuen Industriepolitiken neu erschaffen werden.
Eine Verpflichtung der Gesellschaften mit den führenden Politikern und den verantwortungsvollsten Volksvertretern
Was wir vorschlagen, ist vorerst kein neuer Versuch einer großen Verfassungsreform, sondern ein erster Schritt. Um 2012 einige wenige wichtige Weichenstellungen zu erreichen, ist es wichtig, das Wesentliche zu erfassen. Angesichts der Dringlichkeit der Situation sowie der Unzulänglichkeiten und des Fehlschlags von 2005 wird dies nicht in Form eines Vertrages geschehen, der sich zu sehr auf die Vorbereitung von Texten ohne vorherige Basisdebatte verlassen und letztendlich zu einem kleineren gemeinsamen Nenner geführt hat, worauf die befragten Völker ihr Vetorecht ausgeübt haben. Heute sind die Volksvertreter der europäischen Staaten gespaltener als je zuvor und bringen auch die herrschende Ratlosigkeit und ihre gegensätzlichen Interessen zum Ausdruck. Um Erfolg zu haben, muss die Ausübung der Demokratie auf der Basis einer nationalen und transeuropäischen Kampagne bezüglich grundlegender Entscheidungen stattfinden. Die nationalen und europäischen Abgeordneten werden in geeigneter Form an der Ausarbeitung der Texte beteiligt – nichts darf die Mitgliedstaaten der Eurozone daran hindern, selbst über die Pfeiler ihrer Konsolidierung zu entscheiden. Wir fordern die Abgeordneten auf, diesen Geist der aktiven Teilnahme wieder zu wecken, statt den Völkern ihre Beteiligung vorzuenthalten. Sie müssen die Beschlüsse der Regierungskonferenz billigen oder eben nicht, deren Ausgang sich möglicherweise in einem gestärkten, wenn auch nicht einhelligen Willen zur Zusammenarbeit für die Eurozone äußern könnte.
Dann sind noch mehrere Jahre nötig, um weiterzukommen, denn wir wissen, dass dafür eine Annäherung der Nationen, ihr Wunsch nach einem Zusammenschluss und ihr Wille zur Mitverantwortung nötig sind. Es wird schon eine Leistung sein, die Anerkennung und Unterstützung für einen ersten Schritt zu erhalten, der einen weitgefassten, grenzüberschreitenden öffentlichen Dialog und den eisernen Willen der am meisten involvierten politischen Führungskräfte erfordert. Daher sind wir der Meinung, dass es die Pflicht der französischen Präsidentschaftskandidaten sowie der Kandidaten bei den Wahlen 2013 in Italien und anderen Ländern ist, diese Debatte zu unterstützen, indem sie ihre Optionen in einem fairen, konstruktiven und vom Gedanken der Einheit getragenen Dialog präsentieren.
Nur indem sich die Bürger, die sozialen und wirtschaftlichen Akteure und die organisierten Bürgergesellschaften der Probleme und Verantwortlichkeiten annehmen, kann eine eine existenzfähige, d. h. eine solidarische und dynamische Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb einer politischen Union in Europa geschaffen werden. Das ist unser aller Aufgabe, für die wir uns ab sofort einsetzen.

Paris, den 24. November 2011

Für Confrontations Europe, Claude Fischer und Philippe Herzog
Für die Fondation Astrid, Giuliano Amato und Franco Bassanini
Für die Bertelsmann Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme und Isabell Hoffmann