Bündnis 90/Die Grünen: Das Recht auf Asyl gilt uneingeschränkt – auch in der Krise
Beschluss des digitalen Mitgliederrates:
Die zivilisatorische Errungenschaft des individuellen Rechts auf Asyl ist einer der menschenrechtlichen Grundpfeiler des internationalen und deutschen Rechts und der Europäischen Union. Es muss geschützt werden, zu jeder Zeit. Doch schon vor der Pandemie haben die Mitgliedsstaaten der EU es nicht vermocht, dieses Recht zu achten und gemeinsam zu schützen. Sie ließen zu und lassen bis heute zu, dass Menschen auf der Flucht ertrinken und in überfüllten Lagern auf europäischem Boden monate- und jahrelang feststecken. Eine solidarische Verteilung der Menschen, die nach Europa kommen, wurde bislang ebenso wenig erreicht wie ein gemeinsames europäisches Asylsystem.
Jetzt, in Zeiten der Krise, drohen diese Versäumnisse zu einer noch größeren Katastrophe zu werden: Die von einigen Ländern der EU zugesagte Verteilung besonders schutzbedürftiger Menschen aus den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln verzögert sich lebensgefährlich. Und auch auf dem Mittelmeer haben sich die EU-Mitgliedsstaaten aus der Verantwortung gezogen. Wenn Schutzsuchende im zentralen Mittelmeer gerettet werden, verdanken wir das einzig
und allein dem Engagement der ehrenamtlichen Seenotrettungsorganisationen. Die Pandemie stellt jeden EU-Mitgliedsstaat vor schwierige Herausforderungen. Momentan wird sie jedoch als Vorwand genutzt, um Hilfsorganisationen beim Retten von Menschenleben zu behindern und die staatliche Seenotrettung weiter auszusetzen. All das nun mit dem Hinweis auf die Gefährlichkeit des Virus, auf fehlende gesundheitliche Ressourcen in Südeuropa und aus Angst vor weiteren
Infizierten. Doch Europa darf Menschen nicht ertrinken lassen.
Das Corona-Virus unterscheidet nicht nach Herkunft, Religion oder Aussehen. Es fragt nicht danach, ob wir aus Deutschland, Afghanistan oder Syrien sind. Es gefährdet uns alle. Und es ist, nach den Worten des Bundespräsidenten, eine Prüfung für unsere Menschlichkeit. Für uns Grüne ist klar, dass wir diese Krise nur gemeinsam meistern können. Wir riskieren keine Toten, wo wir Leben retten können – nicht hier, aber auch nicht in Italien, Griechenland oder auf dem Mittelmeer. Wir setzen europäische Werte und Solidarität nicht aufs Spiel, wo sie dringender denn je gebraucht werden. Wir haben ein Ziel: Wir lassen niemanden zurück, auch nicht die Geflüchteten in Deutschland und an den
europäischen Außengrenzen.
Schutzbedürftige aufnehmen, menschenwürdige Bedingungen schaffen, vor Corona schützen
Durch die Corona-Krise hat sich die Verteilung der Menschen aus den überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln nochmal lebensgefährlich verzögert. Eigentlich hatten Anfang März sieben Mitgliedstaaten angekündigt, insgesamt 1.600 besonders Schutzbedürftige von dort aufzunehmen. Doch bis heute haben lediglich Luxemburg und Deutschland Menschen zu sich geholt – zusammen insgesamt 59 Kinder. Das ist nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Mehr als 35.000 Geflüchtete stecken auf den griechischen Inseln fest, 18.000 alleine im Camp Moria auf Lesbos, das ursprünglich für 3.000 Menschen konzipiert war. Es fehlt an Medikamenten, Toiletten, Platz zum Abstandhalten. Nicht einmal fließend Wasser gibt es jeden Tag. Niemand kann sich dort ausreichend vor einer Ansteckung mit dem Covid-19 Virus schützen. Auf ganz Lesbos gibt es nur sechs Intensivbetten. Angesichts dieser Bedingungen ist es nur nachvollziehbar, dass die Geflüchteten große Angst um sich und ihre Liebsten in den Camps haben, wenn das Virus dort ankommt. Dass die Bundesregierung es nach langem Ringen geschafft hat, gerade einmal rund 50 Kinder aufzunehmen, ist unter diesen Umständen beschämend.
Viele Städte und Gemeinden in Deutschland und auch in anderen europäischen Staaten, selbst ganze Bundesländer haben ihre Bereitschaft signalisiert, viel mehr Menschen aufzunehmen. Darum müssen nun sofort als erstes die besonders schutzbedürftigen Menschen, also unbegleitete Kinder und Jugendliche, Familien, Schwangere, chronisch Kranke, traumatisierte Personen, Menschen mit Behinderung und Ältere von den Inseln geholt werden. Die Bundesländer, die deutlich erklärt haben, dass sie Kapazitäten für mehr Menschen haben und aufnehmen wollen, müssen nun aktiv werden, Landesaufnahmeanordnungen erlassen und mit dem Bundesinnenminister ein Einvernehmen über die Aufnahme herstellen. Doch einzelne Bundesländer können die Probleme der Europäischen Asylpolitik nicht im Alleingang lösen. Sie können nur ihren Beitrag leisten und vom Bundesinnenministerium einfordern, dass Deutschland die eigenen Möglichkeiten nutzt und endlich Verantwortung übernimmt. Die hierzulande vorhandenen Kapazitäten dürfen nicht ungenutzt bleiben.
Wir Grüne fordern, in den nächsten Wochen zuerst die besonders schutzbedürftigen Menschen, wie unbegleitete Minderjährige, Familien mit kleinen Kindern oder Corona-Risikofälle zu evakuieren. Familien dürfen nicht auseinandergerissen werden, auch wenn sie durchs enge Raster der Kernfamilien-Definition in der Dublin-Verordnung fallen. Es ist absurd, wenn ein minderjähriger Junge nach Deutschland kommt und von seiner Schwester getrennt wird, die mit einem kleinen Kind in Moria zurückbleibt.
Aufgrund der Ausbreitung von Covid-19 können derzeit viele Visa mangels
Flugverbindungen nicht genutzt werden und verfallen. Daher braucht es einen großzügigen Umgang mit Fristen und Verlängerungen von bereits ausgestellten Visa. Da dies auch den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten in Deutschland betrifft, der ohnehin auf maximal 1.000 Menschen pro Monat begrenzt ist, fordern wir die Übertragung nicht ausgeschöpfter Kontingente auf die Zeit, in der konsularischer Betrieb wieder vollumfänglich aufgenommen werden kann und Flugverbindungen existieren. Sobald es wieder möglich ist, sollten die Visaabteilungen personell aufgestockt werden, um zügig die aufgestauten Anträge
abarbeiten zu können.
Um Menschen nicht noch länger im Ungewissen zu lassen, setzen wir uns dafür ein, die 6-monatige Dublin-Rücküberstellungfrist nicht zu verlängern oder auszusetzen, sondern die Zuständigkeit für das Asylverfahren nach Ablauf der Frist anzuerkennen.
Auch die EU-Kommission muss ihren Teil dazu beitragen, die menschenunwürdige Situation in den Lagern auf den griechischen Inseln zu beenden und dabei unterstützen, dass die sichere Aufnahme der Geflüchteten in anderen EU-Mitgliedsstaaten finanziert wird. Statt 280 Millionen Euro dafür auszugeben, überfüllte Lager einige Kilometer weiter durch geschlossene Freiluftgefängnisse für die Geflüchteten zu ersetzen, sollte die medizinische und humanitäre Versorgung der Menschen verbessert werden.
Häfen öffnen, Menschenleben retten
Über Ostern wurde von überfüllten Booten im Mittelmeer berichtet, die Notrufe abgesetzt hatten, jedoch von den maltesischen und italienischen Behörden ignoriert wurden. Die Bundesregierung forderte von den Seenotrettungs-NGOs sogar einen Stopp ihrer Rettungseinsätze im Mittelmeer. Damit unterstützt Deutschland die Blockadepolitik Italiens, Maltas und anderer Mitgliedstaaten und nimmt in Kauf, dass Menschen im Mittelmeer sterben oder aber in libysche Folterlager zurückgebracht werden, wo auf sie die Hölle auf Erden wartet. Das ist zutiefst unmenschlich.
Im zentralen Mittelmeer trotzen zivilgesellschaftliche Seenotretter*innen der tödlichen Blockadepolitik und retten auch in Zeiten von Corona so viele Leben wie nur möglich. Wir Grüne stehen an der Seite dieser starken und solidarischen Zivilgesellschaft und stellen uns ihrer zunehmenden Kriminalisierung entgegen.
Die Pandemie erfordert zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen, aber sie entbindet einen nicht von der Pflicht, Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Die Häfen Italiens und Maltas sind offen, es fahren täglich Schiffe ein und aus. Es gibt keinen Grund, sie ausgerechnet für Rettungsschiffe zu schließen.
Wir Grüne fordern, dass sich die Bundesregierung gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission dafür einsetzt, dass Italien und Malta ihre Häfen für Rettungsschiffe wieder öffnen. Und wir brauchen dringend und weiterhin ein europäisches Seenotrettungsprogramm für das Mittelmeer, zu dem auch Deutschland mit Booten seinen Beitrag leisten muss.
Um eine mögliche Ausbreitung des Virus zu verhindern, können Schutzsuchende auf derzeit still liegenden Fähren und Kreuzfahrtschiffen in 14-tägige Quarantäne gebracht werden. Danach muss eine Verteilung der Menschen auf EU- Staaten erfolgen. Hierfür braucht es eine Neuauflage und Erweiterung des Abkommens von Malta aus dem vergangenen September.
Ein gerechtes und effizientes Europäisches Asylsystem voranbringen
Wir Grüne setzen uns für eine Reform des Europäischen Asylsystems ein. Dabei müssen faire, zügige und rechtsstaatliche Verfahren überall in Europa genauso wie ein funktionierender Verteilmechanismus im Zentrum stehen. Langwierige Verfahren, Zulässigkeitsprüfungen und Vorprüfungen von Asylanträgen führen zu unmenschlichen Situationen wie derzeit auf den griechischen Inseln. Und genau das wollen wir vermeiden. Schutzsuchende müssen deshalb an den Außengrenzen schnell registriert werden, einen Gesundheitscheck und Sicherheitskontrollen durchlaufen und dann rasch auf die Mitgliedstaaten verteilt werden. Die Erstunterbringung muss menschenwürdig sein und medizinische Versorgung sowie Schutzkonzepte für Frauen, Kinder und weitere besonders vulnerbale Gruppen garantieren. Ein Campieren unter Plastikplanen oder gar unter freiem Himmel ist mit Menschenrechtsstandards unvereinbar. Auch muss eine unabhängige
Rechtsberatung sichergestellt sein. Kapazitäten der Aufnahmezentren dürfen nicht überschritten werden.
Um Schutzsuchende gerecht zu verteilen, setzen wir auf einen Ansatz, der das Potenzial der Solidarität in Europa voll ausschöpft. Hunderte von Städten und Gemeinden in Europa haben sich bereit erklärt, Asylsuchende aufzunehmen. Für uns ist das der Ausgangspunkt. Wer helfen will, muss helfen können. Dabei müssen EU-Gelder zur Unterstützung bereitgestellt werden. Die Blockadepolitik einzelner Mitgliedstaaten darf nicht länger ein menschenwürdiges Asylsystem verhindern. Deshalb setzen wir auf positive Anreize zur Stärkung der Solidarität. Wenn die freiwilligen Kapazitäten erschöpft sind und weitere Plätze für Asylsuchende
benötigt werden sollten sich in einem weiteren Schritt alle Mitgliedsstaaten
solidarisch beteiligen. Mitgliedstaaten, die sich grundsätzlich gegen die
Aufnahme von Schutzsuchenden sperren, sollen stattdessen einen angemessenen finanziellen Beitrag leisten und sich so an einem funktionierenden Europäischen Asylsystem beteiligen. Der finanzielle Beitrag muss mindestens die tatsächlichen Kosten für die Aufnahme von Geflüchteten entsprechen und denjenigen Mitgliedsstaaten zugutekommen, die bereit sind, weitere Schutzsuchende aufzunehmen. Auf diese Weise werden die Anreize für die Verteilung von denjenigen mitfinanziert, die den Schutz von Geflüchteten in Europa grundsätzlich ablehnen.
Wir wollen, dass Anknüpfungspunkte von Asylsuchenden an einen bestimmten Mitgliedsstaat, wie familiäre Bindungen, Sprachkenntnisse oder frühere Aufenthalte, bei der Verteilung so weit wie möglich berücksichtigt werden. Das verbessert die Aussichten auf Integration und verringert die Anreize, irregulär in einen anderen Mitgliedstaat weiterzuziehen.
Die Europäische Kommission muss prinzipiell dafür sorgen, dass Geflüchtete überall in Europa Perspektiven haben. Missstände wie inhumane Zustände in Flüchtlingsunterkünften, illegale Pushbacks und Gewalt an der Grenze müssen ein Ende haben. Die Europäische Kommission darf nicht vor Vertragsverletzungsverfahren und Sanktionen gegenüber Mitgliedstaaten zurückschrecken, welche die Werte und Rechte der EU nicht respektieren.
Geflüchtete auch hierzulande schützen
Im Kampf gegen die Ausbreitung des Corona-Virus darf es keine doppelten
Standards geben. Auch Geflüchtete müssen vor Corona geschützt werden – weltweit und hier in Deutschland. Neben zwingenden Hygieneplänen für eine Entzerrung innerhalb der Erstaufnahmeeinrichtungen und in Gemeinschaftsunterkünften muss eine sofortige Umverteilung von mindestens den Risikogruppen und den schutzbedürftigen Personen in die Kommunen erfolgen.
Abschiebungen sind derzeit faktisch ausgesetzt, da der Flugverkehr nahezu
eingestellt wurde. Es ist auch aus menschrechtlicher Sicht absolut inakzeptabel, in Zeiten einer Pandemie an Abschiebungen festzuhalten, wie es die Bundesregierung jedoch tut. Sie gefährdet damit nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die beteiligten Beamt*innen und das Bordpersonal.
Neben den 16 Landesintegrationsbeauftragten und zahlreichen Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen fordern auch wir Grüne, Abschiebungen ausnahmslos auszusetzen. Dafür soll ein Abschiebestopp aus humanitären Gründen erlassen und die Abschiebhaft entsprechend ausgesetzt werden. Das BAMF und die Ausländerbehörden sollten keine negativen Bescheide mehr ausstellen, da Beratungsstellen und Anwält*innen nur eingeschränkt arbeitsfähig sind. Alle in Deutschland lebenden Menschen sollten unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus
uneingeschränkt Zugang zu unserem Gesundheitssystem haben. Auch bei den Sozialleistungen muss darauf geachtet werden, dass Empfänger*innen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bei den Hilfspaketen nicht vergessen werden.