Das Europa, das wir wollen | 242 Organisationen appellieren an EU-Regierungschefs
„Solidarität hat uns vereint und Solidarität ist der Weg nach vorne. Keine der aktuellen Herausforderungen kann von einem Land oder einer Gruppe Akteure alleine bewältigt werden. […] Wir erwarten von Ihnen als europäische Staats- und Regierungschefs, Mut und Weitsicht zu zeigen, um den Übergang zu einem nachhaltigen, demokratischen und partizipativen Europa zu schaffen. Wir erwarten, dass Sie den Menschen Europas zuhören und das Gipfeltreffen in Rom zum Anlass nehmen, starken gemeinsamen Willen zu bekunden – den Willen, eine bessere und nachhaltigere Zukunft Europas zu schaffen.“
242 gesellschaftliche Organisationen haben sich in einem gemeinsamen Appell vor dem Jubiläumsgipfel in Rom an die europäischen Staats- und Regierungschefs gewandt. Sie fordern die Chefs dazu auf, Demokratie und Partizipation, Solidarität und Nachhaltigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte auf allen Ebenen zu stärken und ein nachhaltiges, inklusives europäisches Wirtschaftsmodell zu verfolgen, damit die Versprechen der frühen Jahre der europäischen Integration eingelöst werden können.
Der Appell entstammt der Feder des WWF im Namen der Green 10, des Europäischen Gewerkschaftsbundes, des europäischen Entwicklungsnetzwerks CONCORD, der Europäischen Bewegung International (EMI), der European Women’s Lobby und des European Youth Forums. Die Europäische Bewegung Deutschland e.V. ist eine von über 200 mitzeichnenden Organisationen. Dem Appell anschließen kann man sich hier.
Appell im Wortlaut: Das Europa, das wir wollen: gerecht, nachhaltig, demokratisch und partizipativ
Zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge haben wir die Chance, Bilanz zu ziehen, was Europa bereits leistet und was noch erreicht werden muss, um eine nachhaltige und wohlhabende Zukunft Europas zu schaffen. Wir rufen die europäischen Staats- und Regierungschefs dazu auf, diese Chance mit beiden Händen zu ergreifen. Wir fordern Führungsstärke, Weitsicht und Mut, um Europa den Weg in eine nachhaltige Zukunft zu weisen, in der die Rechte aller Menschen durchgesetzt und die Ressourcen unseres Planeten respektiert werden.
Europa ist in diesen 60 Jahren weit gekommen: Waren es im Jahre 1957 noch eine Handvoll Nationen, fest entschlossen, stark aus den Ruinen des zweiten Weltkrieges hervorzugehen und den friedlichen Weg in eine gemeinsame Zukunft einzuschlagen, so ist die Europäische Union heute das erfolgreichste Friedensprojekt unserer Zeit: Ein Ort, der Europäerinnen und Europäern kulturellen Reichtum und Vielfältigkeit bietet und wo sie starke gemeinsame Werte und Ziele finden. Dank dieses Fundamentes genießen Unionsbürgerinnen und -bürger mehr Stabilität, Sicherheit und Wohlstand als Menschen an vielen anderen Orten dieser Welt.
Wir dürfen uns damit aber nicht zufriedengeben. Es ist noch viel zu tun, um eine nachhaltige Welt für die kommenden Generationen zu schaffen. Trotz großer Fortschritte sind die Versprechen aus den frühen Jahren der europäischen Integration noch nicht ganz eingelöst worden, und wir befinden uns in einer Zeit, in der die europäischen Werte – Demokratie und Partizipation, Solidarität und Nachhaltigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – gefährdet sind. Die Bürgerinnen und Bürger hinterfragen die Daseinsberechtigung der Europäischen Union, die Legitimation von Regierungen und etablierter Politik sowie die Fähigkeit bestehender Strukturen, auf die dringendsten Herausforderungen der Gesellschaft zu reagieren. Folglich ist das Vertrauen in öffentliche Institutionen rückläufig.
In unsicheren Zeiten wie diesen wollen die europäischen Bürgerinnen und Bürger einen stärkeren – und keinen schwächeren – Fokus auf die europäischen Werte. Sie suchen wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand sowie eine gesunde Umwelt. Wirtschaftliches Wohlergehen, in Form von Wohlstand für alle und einer Umverteilung von Reichtum. Soziales Wohlergehen umfasst gute und bezahlbare Dienstleistungen für alle und auch eine Stärkung des sozialen Gefüges, das uns zusammenhält. Eine gesunde Umwelt und eine Umgebung, in der alles Leben auf der Erde, im Wasser und in der Luft geschützt wird.
Daher rufen wir Sie, die europäischen Staats- und Regierungschefs, dazu auf, sich von einem Wirtschaftsmodell abzuwenden, das Ungleichheiten verstärkt, und stattdessen in eine europäische soziale Marktwirtschaft zu investieren, die allen Menschen zugutekommt. Armut und soziale Ausgrenzung sind auf unannehmbar hohem Niveau. Wir müssen zu einer umfassenden Wirtschaftspolitik zurückkehren, die dafür sorgt, dass jeder in Europa vom Wohlstand profitiert, ohne dabei unserem Planeten zu schaden.
Wir rufen Sie auf, unsere Grundwerte zu wahren und in Beschäftigung und Bildung zu investieren, die zum kritischen Denken anregt, um unsere offenen, demokratischen Gesellschaften zu verteidigen und der Verunsicherung vieler Menschen entgegenzuwirken. Wir rufen Sie, die Staats- und Regierungschefs Europas, dazu auf, Gleichberechtigung, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene zu wahren. Wir wollen ein offenes Europa, an dem jeder partizipieren kann und in dem Migration als eine Bereicherung für die Gesellschaft verstanden wird.
Europa muss zudem seine Rolle bei der Bewältigung globaler Herausforderungen spielen. Insbesondere der Klimawandel bedeutet ein existenzielles Risiko für unseren Planeten – nicht allein aus Umweltgründen, sondern auch, weil er zur Eskalation von Konflikten, Hunger und Zwangsmigration führt.
Auf der Grundlage unserer Forderung für ein „Neues Europa für Menschen, Umwelt und Wohlstand für alle“ (September 2016) nutzen wir die Gelegenheit des Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge, um unser Vertrauen in die Europäische Integration zu bekräftigen und, um den EU Staats- und Regierungschefs konkrete Vorschläge für die Zukunft Europas zu unterbreiten.
Gemeinsam fordern wir:
- ein Europa, das die gesellschaftlichen, politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte aller schützt, und das auch jenseits seiner Grenzen alle darin unterstützt, ihre Rechte wahrzunehmen;
- die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, wobei die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung und die Prinzipien, die diese untermauern, ins Zentrum europäischer und nationaler Politik gerückt werden sollen;
- die vollständige Implementierung des Pariser Klimaschutzabkommens, indem die Energieeffizienz verbessert wird und ein gerechter und nachhaltiger Übergang zu sauberen und leistungsstarken erneuerbaren Energien stattfindet, um die Erderwärmung unter 2°C zu halten;
- eine Stärkung unserer repräsentativen und partizipativen Demokratie, mit besonderem Augenmerk auf einer wirksamen Partizipation der Bevölkerung über Wahlen hinaus, um eine vielfältige Zivilgesellschaft zu ermöglichen;
- eine Stärkung der Bildung als öffentliche Verpflichtung, die lebenslanges Lernen für alle ermöglicht, um aktive Bürgerrechte, kritisches Denken und soziale Teilhabe sowie das Bewusstsein für nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte zu entwickeln.
- einen gerechten Veränderungsprozess für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Industrien vom aktuellen Wirtschaftsmodell zu einer modernen, lebendigen, grünen und sozialverträglichen Wirtschaft, in der menschliche und natürliche Ressourcen geschätzt werden;
- ein europäisches Sozialmodell, das allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, allen Verbraucherinnen und Verbrauchern und allen in der EU lebenden Menschen einen umfassenden Schutz bietet. Ein Sozialmodell, das die Schere zwischen Arm und Reich schließt und Armut und soziale Ausgrenzung reduziert;
- eine Europäische Union mit einer starken Säule sozialer Rechte, die qualitative Beschäftigung und einen gerechten Lohn sicherstellt und gegen Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern kämpft, gegen Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen oder Diskriminierung auf Grund von Rasse, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität, sozioökonomischem Status, Alter, Behinderung, Minderheit oder anderen Aspekten.
In einer Welt, die sich schneller verändert als je zuvor, sind europäische Einigkeit und Solidarität jetzt genauso gefragt wie vor 60 Jahren. Solidarität hat uns vereint und Solidarität ist der Weg nach vorne. Keine der aktuellen Herausforderungen kann von einem Land oder einer Gruppe Akteure alleine bewältigt werden. Allerdings ist es für ihr langfristiges Bestehen dringend erforderlich, dass die Europäische Union und ihre Institutionen wieder stärker auf die Lebenswirklichkeit, die Träume und Hoffnungen ihrer Bürgerinnen und Bürger eingehen. Es ist jetzt an der Zeit, eine Richtungsentscheidung zu treffen. Jetzt ist die Zeit, an unsere Erfolge anzuknüpfen und das Fundament für die nächsten 60 Jahre europäischer Integration zu legen.
Wir erwarten von Ihnen als europäische Staats- und Regierungschefs, genau dies zu tun: Mut und Weitsicht zu zeigen, um den Übergang zu einem nachhaltigen, demokratischen und partizipativen Europa zu schaffen. Wir erwarten, dass Sie den Menschen Europas zuhören und das Gipfeltreffen in Rom zum Anlass nehmen, starken gemeinsamen Willen zu bekunden – den Willen, eine bessere und nachhaltigere Zukunft Europas zu schaffen.
Den englischen Text mitsamt der vollständigen Liste aller unterzeichnenden Organisationen gibt es auf der Website der Europäischen Bewegung International (EMI).