Deutsche Bank: Braucht Deutschland ein Europaministerium?
In diesen Tagen teilen die Koalitionspartner der künftigen Bundesregierung die Ministerressorts neu auf. 12 der 27 EU-Mitgliedstaaten haben ein Europaministerium. In Deutschland steht dies jedoch nicht auf der Agenda. Warum eigentlich nicht?
von Nicolaus Heinen
Der europäische Binnenmarkt ist praktisch zum Heimatmarkt der deutschen Wirtschaft geworden. Zwei Drittel (64,7 Prozent) aller Exporte Deutschlands gehen in die EU – genau den gleichen Anteil (64,6 Prozent) machen die Importe aus. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland gemessen am BIP selbst ein Fünftel des EU-Binnenmarktes stellt und eine global ausgerichtete Exportwirtschaft hat, ist dieser Anteil beachtlich – auch, wenn das Land unter dem EU-Durchschnitt von knapp 66 Prozent liegt.
Die Maßnahmen der EU in der Krisenbekämpfung in den letzten 12 Monaten haben zudem wieder einmal gezeigt, dass die Gemeinschaft weitaus mehr ist als eine Zollunion mit Friedensrendite: Die EU steht für eine ordnungspolitische Idee, die sich in den Europäischen Verträgen, aber auch im Sekundärrecht manifestiert, den europäischen Richtlinien und Verordnungen. 70% aller deutschen Wirtschaftsgesetze werden durch das europäische Sekundärrecht beeinflusst.
Der ordnungspolitische Rahmen der Gemeinschaft folgt keinem Masterplan – er ergibt sich vielmehr aus den täglichen Entscheidungen der Ländervertreter im Ministerrat. Jede Entscheidung ist eine Entscheidung über Europas wirtschaftspolitische Ausrichtung und betrifft Deutschland direkt.
Europäische Ordnungspolitik wird in diesen Tagen auf die Probe gestellt, denn Forderungen nach einem starken Staat sind wieder populär geworden. In der Tat mögen Vorstellungen einer europäischen Wirtschaftsregierung Ländern zusprechen, die sich seit jeher in der Förderung nationaler Champions geübt haben. Deutschland als wettbewerbsfähiges, wirtschaftlich breit aufgestelltes Land mit einem starken Mittelstand sollte hier jedoch einen klaren Kontrapunkt setzen.
Gute Wirtschaftspolitik braucht in Europa die Stimme Deutschlands. Doch diese Stimme muss rechtzeitig und effektiv artikuliert werden. Daran hakt es nicht selten, denn die interne Koordinierung deutscher Europapolitik unterliegt einem komplexen Prozess.
Ein Beispiel: Verlässt ein Richtlinienvorschlag die Kommission in Richtung Ministerrat, wird das Ministerium federführend aktiv, in dessen Ressort die Angelegenheit fällt. Es verfasst ein Votum für den Ständigen Vertreter der Bundesrepublik beim Rat. Dieses Positionspapier muss jedoch zunächst mit den Nachbarressorts abgestimmt werden. Diese Abstimmung koordiniert in wirtschaftspolitischen und technischen Fragen der Gemeinschaft das BMWi. Bei Angelegenheiten der Außen-, Innen- und Sicherheitspolitik nimmt das Auswärtige Amt diese Querschnittsaufgabe wahr.
Doch bei dieser horizontalen Koordinierung bleibt es oft nicht: Denn wenn zwischen den Referaten der Ressortministerien keine Einigung gefunden werden kann, findet eine Abstimmung auf der nächsthöheren Hierarchiestufe statt – vier Stufen sind es bis zum Bundeskabinett. Letzte Schlichtungsinstanz ist das Kanzleramt.
Noch komplizierter wird es, wenn der Inhalt der Richtlinie die Kompetenzen der Bundesländer berührt: In diesem Fall müssen sich zunächst alle 16 Bundesländer auf eine gemeinsame Position festlegen – erst dann wird ein Votum übermittelt.
Dieser enorme Koordinationsaufwand sorgt dafür, dass der deutsche Ständige Vertreter in relevanten Fragen oft nicht ausreichend sprachfähig ist. Daraus resultiert in der Regel eine Enthaltung, die in Brüsseler Kreisen bereits einen Namen hat: German Vote. Und auch, wenn man sich auf eine Position einigen kann, spielt die Zeit gegen die deutschen Koordinierungsbemühungen: Denn während sich Deutschland intern noch abstimmt, schmieden andere Mitgliedstaaten bereits strategische Allianzen. Deutschland riskiert so, abseits zu stehen.
Dies zeigt, dass Deutschland seine Europapolitik intern effektiver abstimmen muss. Eine Möglichkeit hierzu wäre die Schaffung eines Europaministeriums. Die Kompetenzen der derzeitigen Europaabteilungen der einzelnen Ministerien würden zusammengezogen und gebündelt – kurze Dienstwege in der Abstimmung würden eine schnelle Reaktion auf Kommissionsinitiativen erlauben.
Dies hätte jedoch den Abzug europapolitischer Kompetenz aus den Fachministerien zur Folge. Für deren Arbeit würde dies einen enormen Verlust an Fachwissen bedeuten, denn Europapolitik ist heute eine feste Konstante in jedem Ministerialressort: Nationale und europäische Fragen lassen sich mittlerweile nur schwer trennen. Dies gilt für die Wirtschaftspolitik genauso wie für die außen- und sicherheitspolitischen Interessen.
Sinnvoll wäre ein Europaministerium daher nur, wenn es nicht für eine Verschiebung bestehender Kompetenzen, sondern ausschließlich für deren bessere und schnellere Koordinierung stünde. Die Ergebnisse würden den hohen Personalaufwand und die enormen Transaktionskosten ökonomisch sonst nicht rechtfertigen.
Dies wirft die Frage auf, ob nicht ein Ausbau der derzeitigen Koordinierungskompetenz des Kanzleramtes zielführender wäre. Divergierende Meinungen zwischen Fachministerien würden nicht erst am Ende eines langwierigen Abstimmungsprozesses in letzter Instanz geschlichtet, sondern in enger Fühlung mit den federführenden Ressorts. Die Richtlinienkompetenz könnte Abstimmungsprozesse vereinfachen und Transaktionskosten senken: Politisch, personell und prozedural.
Eine Bündelung der Kompetenzen im Kanzleramt könnte auch in der Abstimmung zwischen den Ländern Reibungsverluste minimieren – etwa in Form eines gemeinsamen Koordinierungsgremiums zwischen Bundesrat und Bundesregierung unter Federführung des Kanzleramts.
Unabhängig davon wird die Rolle des Kanzleramts als koordinierende und vermittelnde Instanz deutscher Europapolitik ohnehin zunehmen: Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts erfordert eine stärkere Einbindung der Legislative in die europapolitische Koordinierung. So muss die Regierung alle Initiativen, Vorschläge und Beschlüsse aus Brüssel innerhalb von zwei Wochen an Bundestag und Bundesrat weiterleiten – mit einer ausführlichen Erläuterung möglicher Rechtsfolgen und einer Bewertung ihrer Notwendigkeit.
In die Legislaturperiode der kommenden Bundesregierung fallen wichtige europapolitische Richtungsentscheidungen – etwa die Entscheidung über den EU-Finanzrahmen für die Jahre 2014-2020. Deutsche Interessen sind davon betroffen, und das Land ist gut beraten, sich europapolitisch nach außen hin besser aufzustellen, als dies in den letzten Jahren der Fall war.
Es wäre daher nur zu begrüßen, wenn das Thema Europapolitik in den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen einen Platz oben auf der Agenda einnähme. Ansatzpunkte zur inhaltlichen Profilierung der Akteure gäbe es viele.
Der Autor ist Alumnus des College of Europe
Deutsche Bank Research
Weitere Informationen:
Netzwerk EBD Schaubilder zur deutschen Europakoordinierung