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Institutionen & Zukunftsdebatte

DGAP | Königsweg zur Präsidentenkür

Nur ein Spitzenkandidat sollte Kommissionspräsident werden
Nach der Europawahl kämpfen das Europäische Parlament und der Europäische Rat um die Deutungshoheit über die Ernennung des zukünftigen EU-Kommissionspräsidenten. Während das Europäische Parlament den Spitzenkandidaten-Prozess endgültig etablieren möchte, regt sich Widerstand im Europäischen Rat. Beide Institutionen müssen rasch einen gesichtswahrenden Kompromiss finden, um ein langwieriges Tauziehen zu vermeiden. Dies wird nicht ohne einen der Spitzenkandidaten gehen – im weitesten Sinne.

Nach der Europawahl am 26. Mai 2019 und dem darauffolgenden informellen Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs ist das Rennen um die Nachfolge von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker noch völlig offen. Das Europäische Parlament (EP) und der Europäische Rat nehmen gleichermaßen für sich in Anspruch, den Prozess bestimmen zu wollen – es droht ein langwieriger Machtkampf zwischen beiden Institutionen.

Um die Handlungsfähigkeit der EU zu bewahren, muss eine Lösung gefunden werden, die gute Arbeitsbeziehungen zwischen den Institutionen garantiert. Gerade weil das einzig direkt gewählte EU-Organ durch die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung von den Bürgern Europas gestärkt wurde, sollte der Spitzenkandidaten-Prozess beibehalten werden. Es kommt darauf an zu demonstrieren, dass sich die parlamentarische Mehrheit an der Führungsspitze der zukünftigen Europäischen Kommission widerspiegelt. Das heißt jedoch nicht, dass automatisch der Spitzenkandidat der stärksten Fraktion den zukünftigen Kommissionspräsidenten stellen muss, sondern vielmehr derjenige Kandidat, der eine Mehrheit im Parlament für sich gewinnen kann.

Der Europäische Rat möchte die Deutungshoheit zurückerlangen

Der Spitzenkandidaten-Prozess feierte bei der Europawahl 2014 Premiere. Die vage Formulierung des Vertrages von Lissabon zur Ernennung des Kommissionspräsidenten (Artikel 17 (7)) ermöglichte es dem EP, das Verfahren als demokratischen Fortschritt in der öffentlichen Debatte zu etablieren. Nach den Wahlen gelang es dem Parlament, Juncker gegen den Willen vieler Staats- und Regierungschefs ins Amt zu bringen, da sich die beiden größten Parteienfamilien im Parlament, die Christdemokraten (EVP) und die Sozialdemokraten (S&D), mit zusätzlicher Unterstützung der liberalen ALDE schnell auf einen Deal einigen konnten und so den Europäischen Rat vor vollendete Tatsachen stellten.

Während aus Sicht des Parlaments mit diesem Vorgang ein Präzedenzfall geschaffen wurde, den es durch die erneute Anwendung des Prozesses 2019 zu zementieren gilt, hegen viele Staats- und Regierungschefs Vorbehalte und wollen die Deutungshoheit zurückgewinnen. Sie berufen sich darauf, dass es nicht die realen Machtverhältnisse in der EU widerspiegele, wenn der Europäische Rat den zukünftigen Kommissionspräsidenten nur absegnet und betonen, dass es keinen Automatismus zwischen den Spitzenkandidaten und dem zu nominierenden Kommissionspräsidenten geben könne. Insbesondere Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprach sich gegen den Spitzenkandidaten-Prozess aus, da dieser die beiden großen europäischen Parteienfamilien strukturell bevorzuge. Mehrfach zeigte er seine Ablehnung gegenüber EVP-Kandidat Manfred Weber und favorisierte seinen Landsmann, den EU-Brexit-Beauftragten und Nicht-Spitzenkandidaten Michel Barnier.

Andere Vertreter im Rat unterstützen die Spitzenkandidaten – nicht zuletzt aus parteipolitischem Kalkül. Während Mitglieder der konservativen Parteienfamilie wie beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel und der irische Ministerpräsident Leo Varadkar am Rande des Rates weiterhin ihre Unterstützung für ihren Kandidaten Manfred Weber zu Protokoll gaben, hielten sozialdemokratische Vertreter wie der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez an Frans Timmermans fest.

Die Preisgabe des Spitzenkandidaten-­Prozesses würde das EP schwächen

Im EP tritt die Mehrheit der Fraktionen für den Spitzenkandidaten-Prozess ein – und möchte den 2014 gewonnenen Einfluss auf die EU-Exekutive nicht wieder verlieren. Schließlich war es so gelungen, dem allgemeinen Trend hin zu einer immer größeren Rolle des Europäischen Rates bei Entscheidungsprozessen in der EU etwas entgegenzusetzen. Allerdings konnten sich die Parteien bislang nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, auch weil EVP und S&D dieses Mal nicht über die nötige absolute Mehrheit verfügen, einen Deal durchs Parlament zu bringen, der den Europäischen Rat sofort unter Druck setzen würde. In der Mehrheitsfindung zur Unterstützung eines gemeinsamen Kandidaten ist nun die Einbindung weiterer politischer Kräfte, vor allem der liberalen ALDE und der Grünen, unabdingbar. Beide werden inhaltliche Zugeständnisse im Gegenzug für ihre Unterstützung erwarten. Darin liegt eine große Chance für das EP, denn ein breites Bündnis für einen gemeinsamen Kandidaten würde dessen Legitimation gegenüber dem Europäischen Rat deutlich steigern.

Sollte der Europäische Rat dennoch versuchen, den Spitzenkandidaten-Prozess zu untergraben und einen anderen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten durchsetzen zu wollen, würde das Parlament wieder an Bedeutung einbüßen. Es ist daher nicht absehbar, dass eine Mehrheit der Abgeordneten die Macht ihrer Parteifamilie vor die Macht ihrer Institution stellen und einen Kandidaten des Europäischen Rates absegnen würde, der nicht „der ihre“ ist. Letztendlich wählt das EP den Kommissionspräsidenten mit einfacher Mehrheit. Es könnte daher – wie es das bereits 2018 in Aussicht gestellt hat – sämtliche vom Europäischen Rat vorgeschlagenen Kandidaten ablehnen, die nicht im Vorfeld Spitzenkandidaten einer europäischen Parteienfamilie waren.

Es geht nicht ohne einen der Spitzen­kandidaten – im weiteren Sinne

Ein langwieriges Tauziehen und schlimmstenfalls eine institutionelle Krise wären die Folge. Statt sich zügig den strategischen Prioritäten der nächsten fünf Jahre zu widmen, würden die Institutionen sich gegenseitig behindern. Dafür ist keine Zeit. Die äußeren und inneren Herausforderungen sind zu groß; die EU muss handlungsfähig sein. Dafür kommt es zunächst darauf an, einen Kandidaten zu nominieren, der das Vertrauen sowohl des EPs, als auch des Europäischen Rats genießt und durch dessen Wahl der Spitzenkandidaten-Prozess nicht automatisch diskreditiert würde. Nachdem insbesondere die beiden großen europäischen Parteienfamilien das Instrument des Spitzenkandidaten immer wieder zum Königsweg der Demokratisierung der EU erhoben haben, können sie nicht ohne Gesichtsverlust hinter ihre eigenen Forderungen zurücktreten. Ein Deal der Staats- und Regierungschefs unter Umgehung des Spitzenkandidaten-Prozesses würde in die Hände der Rechtspopulisten spielen, die die EU für ihre Bürgerferne und ihr Demokratiedefizit anklagen und die mit dem Verfahren verbundenen leeren Versprechungen der etablierten Parteien brandmarken würden.

Zugegebenermaßen konnte der Spitzenkandidaten-Prozess bisher noch nicht seine volle Wirkung entfalten: 2014 sank die Wahlbeteiligung auf ein Rekordtief und die Möglichkeit, den Kommissionspräsidenten zu wählen, hatte nur geringen Einfluss auf die Wahlentscheidung. Dies liegt aber vor allem an den nationalen Parteien, die im Wahlkampf kaum mit den Spitzenkandidaten geworben und es damit verpasst haben, den Prozess mit Leben zu füllen. Sollten die Kandidaten übergreifend größere Sichtbarkeit erfahren, könnte diese stärkere Personalisierung im Wahlkampf langfristig das Bewusstsein und das Interesse bei den Bürgern für europäische Themen und für die Europawahl steigern und die Europäisierung der öffentlichen Debatte vorantreiben.

Aus der gestiegenen Wahlbeteiligung 2019 erwächst ein klarer Auftrag der Bürger an die Politik, dass sich die parlamentarische Mehrheit an der Führungsspitze der zukünftigen Europäischen Kommission widerspiegelt. Deshalb muss der Kommissionspräsident auch dieses Mal aus dem Feld der Spitzenkandidaten kommen. Dies muss jedoch nicht der Kandidat der stärksten Fraktion sein, sondern derjenige Kandidat, der mit der Mehrheit der Abgeordneten gewählt wird. Alle Spitzenkandidaten, auch Margarete Vestager, die sich an der öffentlichen Debatte der Spitzenkandidaten beteiligt hat, aber erst am Wahlabend ihre Kandidatur erklärte, sollten offen darauf geprüft werden, ob sie in der Lage sind, Brücken zwischen beiden Institutionen zu bauen und politische Kompromisse herbeizuführen. Der Europäische Rat wird den Fraktionen im EP nun einige Zeit einräumen, um genau diese Mehrheit zu organisieren. Der Ball liegt damit im Feld des EPs, das nun selbst die Initiative ergreifen kann – aber auch in der Bringschuld steht, einen gemeinsamen, konsensfähigen Kandidaten zu identifizieren.

Rat, Kommission und Parlament müssen an einem Strang ziehen

Im Gegenzug könnte die Verknüpfung der Personalentscheidung mit politischen Inhalten eine Brücke zwischen dem EP und dem Europäischen Rat bauen. Der nächste institutionelle Zyklus wird von deutlich mehr Fragmentierung zwischen den Mitgliedstaaten geprägt sein. Dies schränkt den Handlungsspielraum auf europäischer Ebene deutlich ein. Deshalb sollten das Europäische Parlament und der Europäische Rat die Personalverhandlungen über eine inhaltliche Diskussion hinaus ausweiten, wie eine möglichst große Abstimmung der Prioritäten des zukünftigen Kommissionspräsidenten – und damit auch der Mehrheit des EPs – mit mehrheitsfähigen Kerninteressen im Europäischen Rat sowie dessen strategischer Agenda hergestellt werden kann. Diese inhaltliche Verbindung ließe die Staats- und Regierungschefs die Beibehaltung des Spitzenkandidaten-Prozesses verschmerzen, da er einerseits die Chance für eine sachorientierte Politik eröffnen würde, um große Themen beispielsweise im Bereich Klima, Migration oder Digitalisierung institutionenübergreifend voranzubringen. Andererseits könnten sie bereits vorab über Bande spielen und die Koalitionsverhandlungen im EP nutzen, um über ihren parteipolitischen Einfluss Themen zu platzieren, die im Europäischen Rat sonst keinen einstimmigen Konsens erhalten würden.