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Europäische Wertegemeinschaft, Europakommunikation, Partizipation & Zivilgesellschaft

EBD zur Koalitionsvereinbarung: Die Richtung stimmt, doch das Navi braucht ein Update

Es ist der am stärksten auf Europa ausgerichtete Koalitionsvertrag der Ära Angela Merkel. CDU, CSU und SPD haben sich auf neue Ziele in der deutschen EU-Politik geeinigt. Deren Erreichung soll jedoch mit verstaubten Instrumenten erfolgen. Die Europäische Bewegung Deutschland e.V. befürchtet die Fortsetzung des großkoalitionären business as usual, wenn wichtige demokratische Debatten zu den konkreten Auswirkungen der Europapolitik auf die Menschen innerhalb und außerhalb Deutschlands wegretuschiert werden. Hier fehlt ein strukturierter Ansatz genauso wie bei der Frage nach einer Bündelung der EU-Koordinierung. Die EBD begrüßt die Beschlüsse zum Investitionshaushalt der EU und zur Stärkung des Europäischen Parlaments. Errungenschaften wie die Spitzenkandidatinnen und -kandidaten finden sich im GroKo-Papier nicht wieder.

Eurozonen-Reform und EU-Haushalt – viel Beinfreiheit für Koalition

Das Europa-Kapitel im Koalitionsvertrag hat sich gegenüber dem Sondierungspapier kaum verändert. Dass Europa in beiden Texten an erster Stelle steht, ist ein Fortschritt an sich. Die EBD begrüßt, dass die Koalitionäre im Großen und Ganzen den Vorschlägen der Europäischen Kommission zum Umbau der Eurozone folgen. Ob die nun neue Betonung der Haushaltshoheit des Deutschen Bundestags im Koalitionspapier lediglich eine rote Linie oder eine notwendige Voraussetzung für Reformen ist, bleibt abzuwarten.

Deutschland wird die verzerrende Nettozahlerbrille abnehmen und sich für eine Stärkung des EU-Haushalts einsetzen – eine zentrale Forderung der EBD und ihrer 241 Mitgliedsorganisationen. Dass insbesondere die Bildungsprogramme und Erasmus+ gestärkt werden sollen, begrüßt die EBD. Bei den im Verhältnis zum deutschen Gesamthaushalt geringen Summen wird hoffentlich auch die neue Bundesregierung klarstellen, wie stark Deutschland von Binnenmarkt und Euro, ob mit oder ohne Rückflüsse aus Brüssel, profitiert.

Die künftige Regierungskoalition will die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte und damit das Prinzip der wechselseitigen Solidarität stärken. Wie jedoch die Umsetzung aussieht oder mit welchen Instrumenten man beabsichtigt, einen Wertedialog mit allen EU-Staaten zu öffnen, bleibt abzuwarten. Die Bundesregierung in spe scheint sich hier viel Beinfreiheit für Verhandlungen hinter verschlossenen Türen herauszunehmen. Bei der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik hingegen geht der Vertragsentwurf ins Detail und deckt die Inhalte der EBD-Forderung „Europa gemeinsam verteidigen“ ab.

Vernachlässigt: 2019 ist Europawahl!

Der vage Bezug zum Europäischen Parlament ist für die EBD ernüchternd. Es gibt kein Abbruchsignal, wie die europäische Demokratie über das Europäische Parlament gestärkt werden kann. Noch 2014 trat Martin Schulz als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten an, das Amt des Kommissionspräsidenten zu gewinnen. Die Regierungskoalition in spe redet nun nicht mehr von einer stärkeren Legitimation der EU-Kommission durch eine parlamentarisch gewählte EU-Kommissionssitze. Paris und Berlin scheinen gemeinsam von der Stärkung des Europäischen Parlaments durch Spitzenkandidaten-Debatten abzurücken. Die von der Europäischen Bewegung International geforderten transnationalen Wahllisten sind ebenfalls kein Thema der Koalitionäre. Statt die demokratischen Institutionen zu stärken, sollen nach dem Wunsch der Verhandler nun „öffentliche Bürgerdialoge“ für mehr Demokratie und Transparenz in der EU-Reformdebatte sorgen. Egal, wie man das Konsultationsformat nennt – aus Sicht der EBD bedeutet es nur dann eine gute Ergänzung zu demokratischen Entscheidungswegen, wenn es richtig gemacht wird. Denn Bürgerdialoge können leicht zu Alibidebatten mutieren, wenn sie als PR-Veranstaltungen einem vermeintlich unveränderlichem Regierungshandeln dienen. Ein strukturierter Dialog mit den repräsentativen Interessengruppen sieht anders aus.

Aus Sicht der EBD ignorieren die Koalitionäre die negativen Seiten der informellen Triloge von Parlament, Rat und Kommission im EU-Gesetzgebungsprozess. Wenn selbst Interessengruppen keinen Durchblick bei EU-Gesetzen erhalten, wie sollen erst die Bürgerinnen und Bürger Vertrauen in die EU-Gesetzgebung gewinnen? Hier ist die neue Bundesregierung gefordert, aber auch das Europäische Parlament selbst.

Überbetont: Paris-Berlin. Europa ist größer!

Die deutsch-französische Zusammenarbeit muss Grundlage der deutschen Europapolitik bleiben, die neuen Absätze zur deutsch-polnischen Partnerschaft sind zu begrüßen – ein europäischer Aufbruch gelingt aber erst, wenn alle Mitgliedstaaten einbezogen werden. Die Bundesregierung riskiert eine Blockbildung ohne Möglichkeit der Mitgestaltung wie den Visegrad-Staaten, im Austerliz-Format oder der Mittelmeer-Union, wenn sie weiterhin mit wenig Empathie oder Public Diplomacy-Strategie vor allem auf die kleineren EU-Mitglieder zugeht. Nicht erst mit dem Brexit wird ihre Position in der EU stärker. Berlin darf sich dieser Realität nicht durch einen starren Blick nach Paris verwehren.

Glyphosat lässt grüßen: Eine gute Europapolitik ist weiterhin abhängig von einer zuverlässigen Ressortabstimmung

Für die EBD besonders enttäuschend ist die Zementierung der antiquierten deutschen Europakoordinierung. Die EBD bedauert diese verpasste Chance. Zwar beschwören CDU/CSU und SPD eine enge Abstimmung ihrer jeweiligen Ressorts, doch die Frage nach dem einheitlichen Ansprechpartner – dem „blauen Telefon“ – für die deutsche Europapolitik bleibt wieder einmal unbeantwortet. Nach wie vor ist die EBD von einer zentralen Stelle in Persona einer/s Bundesministers/in für die besondere Aufgabe Europäische Integration überzeugt. Eine Reform der mehr als 20 Jahre alten EU-Koordinierung hatten die Jamaika-Sondierer in Erwägung gezogen. Die Hoffnung liegt nun in einer engen Zusammenarbeit zwischen wenigen Personen mit allen negativen Folgen für eine breite gesellschaftliche und parlamentarische Debatte in Sachen Europapolitik. Für eine pluralistische europäische Demokratie hätten die Koalitionäre mehr Mut haben können. Auch gut gemachte Bürgerdialoge können dafür kein Ersatz sein.