Europas Zukunft 30 Jahre nach dem Vertrag von Maastricht | Veranstaltung der Europäischen Bewegungen DE-FR-IT
Vor dreißig Jahren legte der Vertrag von Maastricht die Grundlagen für die Europäische Union in ihrer heutigen Form. Wie steht es um die europapolitische Bilanz des Vertrages und welche Rolle wird er für die zukünftige Gestaltung der EU spielen? Diese Fragen wurden in einer gemeinsamen Veranstaltung der Europäische Bewegungen Deutschland (EBD), Frankreich und Italien am 30. Jahrestag diskutiert. Unter den Impulsgebern dieser Online-Veranstaltung waren die Präsidentin und Präsidenten der Europäischen Bewegungen mit Dr. Linn Selle, Yves Bertoncini und Pier Virgilio Dastoli vertreten, die vorab gemeinsame Forderungen passend zum Anlass veröffentlichten. Darüber hinaus nahmen frühere Verhandlerinnen und Verhandler teil: Prof. Joachim Bitterlich, Botschafter (e.r.) und ehemaliger Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, Emma Bonino, Senatorin und EU-Kommissarin von 1995 bis 1999, Elmar Brok, Mitglied des Europäischen Parlaments von 1980 bis 2019, Rocco Cangelosi, diplomatischer Berater des Präsidenten der Italienischen Republik Giorgio Napolitano und 150 Zuschauende teil.
Die Sprecherinnen und Sprecher zeigten sich geschlossen in ihrer Betrachtung, dass der Vertrag von Maastricht den Beginn einer erheblichen Veränderung der EU markierte. EBD-Präsidentin Linn Selle machte deutlich, dass die Europäische Union durch den Maastrichter Vertrag einheitlicher, demokratischer, sozialer und politisch stärker geworden sei. Die Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion habe nicht nur ein hohes Maß an Stabilität gebracht, der Vertrag offenbarte ebenfalls, dass die Europäische Union auch ein politisches und soziales Projekt sei.
Dennoch zeigten sich die Panelisten gegenüber den Errungenschaften in der europäischen Integration seit Maastricht auch kritisch, da die Konsolidierung Europas viel zu langsam vorangeschritten sei. Elmar Brok unterstrich das hohe Entwicklungspotenzial des Maastrichter Vertrags, stellte aber bedauernd fest, dass die EU dieses Potenzial nicht ausgenutzt habe. „Wir sind eine Handelsmacht, eine außenpolitische Macht, wir haben Soft Power – aber wir nutzen es nicht“. Dieses Problem wurde sowohl auf das Einstimmigkeitsprinizip zurückgeführt als auch darauf, dass der Europäischen Union nicht die notwendigen Kompetenzen erteilt wurden, um effizient zu sein. Auch mangele es an einer treibenden Kraft im Europäischen Rat, sodass die gegenwärtige Zukunftsgestaltung Europas hinter den Erwartungen zurückbleibe. Für Joachim Bitterlich habe die EU beim Thema Bürgernähe in dreißig Jahren kaum Fortschritte gemacht.
Warum der „Geist von Maastricht“ jetzt wiederbelebt werden müsse, damit aktuelle Herausforderungen gemeistert werden können, verdeutlichten Dr. Linn Selle und Rocco Cangelosi in ihren Beiträgen. Der Vertrag von Maastricht war ein „Sinnbild von Überzeugungskraft“, so EBD-Präsidentin Linn Selle. „Man war überzeugt, dass Richtige zu machen und wir brauchen das jetzt für die nächsten dreißig Jahre“. Auch Rocco Cangelosi verdeutlichte die Parallelen zwischen damals und heute mit Blick auf eine angespannte Lage, die nach angemessenen europäische Antworten verlangte. Heute befinde man sich mit den Spannungen in der Ukraine und mit dem Wiederaufbau der Länder nach der Pandemie in einer vergleichbaren Lage.
Reformen in den Bereichen Innere Sicherheit- und Migrationspolitik, aber auch in Bezug auf Bürgernähe und die Stärkung von Parlamentarismus war für alle Sprecher von höchster Priorität. Yves Bertoncini betonte, dass man beispielsweise dem Europäischen Parlament mehr Befugnisse einräumen solle. Diese einzelnen Reformen erfordern laut Yves Bitterlich einen stärkeren Impuls der Staatschefs, eine stärkere Einbeziehung nationaler Parlamente in die Europapolitik und konkrete Fahrpläne. Emma Bonino deutete darauf hin, dass eine Veränderung des institutionellen Gefüges ebenfalls von zentraler Bedeutung sei, welches jedoch in der Konferenz zur Zukunft Europas kaum eine Rolle gespielt habe. Elmar Brok fügte hinzu, dass die Konferenz zur Zukunft Europas zwar ein wertvolles Instrument zur Diskussion wichtiger Themen und Ideen sei, aber kein Gespräch über deren Umsetzung statfinde. Yves Bertocini zeigte sich bezüglich der Zukunftskonferenz optimistischer und erkannte diese als ein wichtiges Instrument zur Stärkung Europas und zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts an.
Die Diskussion warf schlussendlich die Frage auf, welche Reformschritte die EU nun benötige. Ist ein neuer Vertrag erforderlich? Wie und von wem soll Europapolitik im 21. Jahrhundert gestaltet werden? Die Panelisten zeigten sich bei dieser Frage gespalten. Für Elmar Brok sei das Potenzial des Vertrags von Lissabon noch nicht ausgeschöpft. Auch Joachim Bitterlich betonte, dass Europa derzeit nicht „reif“ genug sei für neue Verträge. Für EBD-Präsidentin Linn Selle bräuchte man zwar nicht um jeden Preis einen neuen Vertrag, aber der bald zwanzig Jahre alte Vertrag von Lissabon würde nicht ausreichen, um neue Reformen zu initiieren. Erforderlich wäre jetzt ein Mechanismus für die Reform dieser Verträge, so Rocco Cangelosi. Linn Selle hofft, dass Druck für Vertragsänderung durch die Konferenz zur Zukunft Europas entstehen wird. Die Frage wer die Europapolitik gestalten soll, bleibe aber offen. Während Joachim Bitterlich von einer „offenen Pioniergruppe“ sprach, zeigten sich Elmar Brok und Emma Bonino kritisch gegenüber der Idee, dass Europapolitik von einem Kerneuropa gestaltet werden könne. Auch wenn der Maastrichter Vertrag vor dreißig Jahren die richtigen Grundlagen für die Europäische Union schaffte muss sich die EU, in einer Welt, die sich in den letzten dreißig Jahren entscheidend verändert hat, neuen Begebenheiten anpassen und Reformen zulassen, wenn sie zukunftsfähig bleiben will. Die Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Italiens könnten mit ihren Ideen und Interessen dabei helfen, die europäische Zusammenarbeit zu fördern und damit zu einem starken Europa beitragen.