Von Manuel Dietz und Fedor Ruhose

Inhaltliche, wirtschaftliche und intellektuelle Gründe warum es Großbritannien (und auch anderen europäischen Staaten) außerhalb der Europäischen Union bessergehen sollte als innerhalb, gibt es nicht viele. Emotionale Gründe hingegen gibt es eine ganze Menge und darunter auch solche, die sich nicht einfach als unsachliche Überlegungen von Menschen zurückweisen lassen, die nicht verstehen, worum es eigentlich geht. Auch in Deutschland ist das Gefühl weit verbreitet, dass Europa schon lange nicht mehr ernsthaft auf seine Bürgerinnen und Bürger zugeht und dass die europäischen Politiker nicht mehr mit Überzeugung hinter Europa stehen würden – quer durch die Parteien und Schichten. Es wird viel zu sehr über das Funktionieren oder Nichtfunktionieren europäischer Mechanismen diskutiert und über die Nachteile, die wir ohne Europa hätten. Was jedoch fehlt, ist ein nachdrückliches Eintreten für die Werte Europas, die Gründe, warum Europa und ein gemeinsames Arbeiten an Winston Churchills Idee von den Vereinigten Staaten von Europa heute mehr denn je wichtig ist.

Das emotionale Europa ist eigentlich gar nicht so weit weg, leider aber eher, wenn es um die Idee Europa geht, als wenn es sich um die Realität der EU dreht. Unsere Generation hat den Zweiten Weltkrieg nicht selbst miterlebt und kennt seine Grausamkeiten, Entbehrungen und Erschütterungen nur aus Erzählungen der Eltern oder Großeltern  oder aus der Schule. Unsere Generation – und nicht nur die – verdankt die Tatsache, dass sie persönlich in ihrem Leben Krieg nicht am eigenen Leib erfahren musste auch jenen Menschen, die nach dem Krieg unser heutiges Europa erst wiederaufgebaut und dann ausgebaut haben.

Eigentlich erleben wir Tag für Tag, welche Bedeutung Internationalisierung und Europäisierung und der Austausch in Bildung, Forschung und Wissenschaft für unser friedliches Zusammenleben hat. Wenn man sich– wie einer der beiden Autoren – damit auseinandersetzt, wie positiv all dies für die Hochschulen, aber noch mehr für die Studierenden ist und wie wichtig die Grundlagen sind, die das in den Köpfen der jungen Menschen verankert, um selbst ein weltoffenes und zumindest europäisches, wenn nicht sogar globales Leben zu führen, dann kann man gar nicht anders, als ein überzeugter Europäer zu werden und zu bleiben.

Es gibt gute, emotionale Gründe für Europa. Unter europäischen Politikern hören wir das nur viel zu selten.

All dies im Hinterkopf ist die Brücke zurück zu den Vereinigten Staaten von Europa schnell geschlagen. Es gibt gute, emotionale Gründe für Europa. Unter europäischen Politikern hören wir das nur viel zu selten. Die nationalen Politiker, die Bundeskanzlerin eingeschlossen, halten sich damit noch mehr zurück und selbst überzeugte Europäer, die wir gute Gründe haben, an Europa zu glauben und eine Geschichte haben, die das unterstützt, halten uns viel zu oft zurück. Das Referendum in Großbritannien hat dies wieder einmal deutlich gezeigt.

Deutlich vernehmbar seine Meinung zu äußern, ist anstrengend und daher verbleibt die persönliche Enttäuschung viel zu oft im privaten Raum. Und es hilft genau nicht dabei, andere von der Wichtigkeit Europas zu überzeugen.

Der Brexit bietet aber auch die Chance, dass sich jetzt mehr und mehr Menschen mit Nachdruck für Europa engagieren. Oftmals erkennt man den Wert einer Sache erst, wenn man Gefahr läuft, sie zu verlieren. Klar ist, dass sich die EU ändern muss, um zukunftsfähig zu sein. Die Liste der eher technischen Änderungen an der EU ist lang, daher sollte sie nicht der Ausgangspunkt für den notwendigen Veränderungsprozess sein. Es geht dabei um Fragen, ob bei Entscheidungen immer Einstimmigkeit notwendig ist oder wie das Europäische Parlament oder die Europäische Kommission gewählt werden sollen. Diese Fragen müssen angegangen werden, ihre Beantwortung lässt aber noch lange keine neue europäische Bewegung entstehen. Die meisten europäischen Bürgerinnen und Bürger würden eine ausschließlich darauf ausgerichtete Diskussion als Beleg für die Abgehobenheit der so genannten Elite in Brüssel ansehen.

Es ist das Dilemma Europas, dass es erst einer krassen Infragestellung in Form eines Brexits bedarf, um alle wachzurütteln, die an Europa glauben und es für notwendig halten, an der Zukunft Europas mitzuarbeiten. Wir brauchen einen geradlinigen, nachvollziehbaren Umgang mit dem britischen Austrittswunsch – ohne Zorn oder Wunsch nach Vergeltung und im Rahmen des Möglichen sogar so, dass Großbritannien einen Weg zurück in die EU finden könnte. Wir brauchen all die technischen Änderungen an der EU.

Zu viele Regierungen haben es sich nur allzu bequem gemacht in einer EU, in der für alles Schlechte im Zweifel „Brüssel“ die Verantwortung zugeschoben bekommt.

Aber was wir noch viel dringender brauchen, ist die Emotion Europa. Wir brauchen eine Begründung jenseits von wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen oder stabilitätsbezogenen Gründen. Man könnte fast sagen, dass die verwaltungstechnische Effizienz der EU – von „Brüssel“ – hier sogar ihr zum Nachteil gereicht. Es braucht keinen Wagemut, keine Emotion, kein Herzblut, um eine europäische Direktive oder eine EU-Norm auszuarbeiten und umzusetzen. Wir haben bereits so viel europäische Einigung, dass es keines grundsätzlichen Kampfes braucht, um den jeweils nächsten verwaltungstechnischen Schritt zu gehen. Auf diesem Wege ist jedoch für zu viele die eigentliche europäische Idee verlorengegangen. Zu viele Regierungen haben es sich nur allzu bequem gemacht in einer EU, in der für alles Schlechte im Zweifel „Brüssel“ die Verantwortung zugeschoben bekommt. Wohlgemerkt, es geht hier nicht darum, all die Fehlentwicklungen in der EU kleinzureden. Es geht darum, die notwendigen Veränderungen einzubetten in eine Neuauflage der Begründung von Europa. Es geht darum, das Selbstverständnis der EU noch einmal neu – oder überhaupt einmal? – zu definieren. Unser Wunsch geht dabei in Richtung eines noch stärker integrierten Europas, mit noch stärkerer demokratischer Rechtfertigung – im Zweifel als ein Zusammenschluss von Ländern in der EU, die in einem „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ vorangehen.

Wichtiger aber noch als unsere Vorstellung, was das Ziel angeht, ist der Prozess, um die Diskussion anzustoßen und voranzutreiben. Die Bundesregierung gibt viel Geld aus, einen Bürgerdialog zu initiieren über das gute Leben in Deutschland. Warum nicht einen solchen Prozess über das EU-Bild der Deutschen initiieren oder noch besser einen ernsthaften europaweiten Dialog und Austausch? Je mehr europäische Bürgerinnen und Bürger über die gemeinsame Zukunft mitdiskutieren und je mehr diese Diskussion mit Herzblut betrieben wird, desto mehr birgt sie die Chance auf einen echten Neuanfang, der den Brexit als Chance und Startschuss nutzt. Die Angst vor den Rechtspopulisten unseres heutigen Europas darf uns nicht davon abhalten, die Diskussion offen zu führen.

Europa ist zu wichtig, um sich nicht zu kümmern, die Idee zu groß, um sie Populisten zu überlassen, aber auch zu groß, um sie nur noch als verwaltungstechnische Herausforderung zu sehen. Es liegt an uns allen, die Zukunft Europas mitzugestalten.

Die Autoren geben ihre persönliche Meinung wieder.