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FES | Mit verschiedenen Geschwindigkeiten in ein demokratisches und soziales Europa.

Mit dem Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union hat die Europäische Kommission die Diskussion über eine flexible Integration wieder aufleben lassen. Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist nun in aller Munde und wird vor allem von französischen und deutschen Regierungskreisen unterstützt. Auch für progressive Europapolitiker könnte das Konzept eine Chance sein. Der Vorsitzende der Europa-SPD, Jens Geier, hat jüngst vor allem aus pragmatischen Gründen seine Unterstützung dafür signalisiert. Doch eine flexible Union ist nicht nur zu befürworten, weil sie im Moment als einzige realistische Antwort auf die diversen Krisen der EU erscheint. Abhängig davon, was genau wir unter einer flexiblen Union verstehen, könnte dadurch nicht nur das Demokratiedefizit der Europäischen Union abgebaut werden, auch ein Politikwechsel hin zu einem sozialeren Europa ist durch eine Flexibilisierung des Integrationsprozesses denkbar.

In der Debatte um die Krise der demokratischen Legitimität der Europäischen Union stehen sich typischerweise Föderalisten und Intergouvernementalisten unversöhnlich gegenüber. Die Föderalisten unterstreichen die Souveränität eines einheitlichen europäischen „Demos“ (Staatsvolk) und kritisieren, dass der Wille der europäischen Bevölkerung nicht angemessen im EU-Institutionengefüge repräsentiert ist. In dieser Sicht wird der Weg zum Ideal einer transnationalen Demokratie durch die politische Macht der nationalen Regierungen im EU-Institutionengefüge versperrt. Daher treten die Föderalisten für eine Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses ein und fordern eine Stärkung der supranationalen Institutionen, insbesondere des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission. Hingegen sehen Intergouvernementalisten die mangelnde nationalstaatliche Handlungsfähigkeit als Ursache für das Demokratiedefizit der EU und fordern mehr Einfluss für die nationalen Regierungen im EU-Institutionengefüge – etwa durch eine Stärkung des Europäischen Rates sowie durch eine Rückbesinnung auf Konsensbeschlüsse im Rat.

Alternative zu Zentralisierung oder Nationalisierung

Daneben gibt es eine Reihe von Stimmen, die eine Zwischenposition einnehmen. Kalypso Nicolaïdis, Richard Bellamy und Frank Schimmelfennig unterstreichen, dass es auf europäischer Ebene keinen einheitlichen „Demos“, sondern diverse „Demoi“ gibt, deren Positionen angemessen im EU-Institutionengefüge repräsentiert werden müssen. Sie propagieren das Ideal einer „EU Demoicracy“, also eines politisches Systems, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass der Heterogenität der europäischen Bevölkerung und den diversen nationalen Befindlichkeiten angemessen Rechnung getragen wird. Für sie steht das Prinzip der „non-domination“ im Mittelpunkt: Die Mitgliedstaaten stellen eine schützenswerte, demokratische Arena dar, in der historisch gewachsene Institutionen für einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen sorgen. Daher sollten politische Entscheidungen, die im Nationalstaat getroffen wurden, nicht vorschnell durch supranationale europäische Institutionen oder durch andere Mitgliedstaaten übergangen werden. Unter „Demoikraten“ sind konkrete Reformvorschläge zur Demokratisierung der EU äußerst verschieden. Sie reichen von einer Stärkung der Konferenz der Europa-Ausschüsse der nationalen Parlamente (COSAC) bis zur stringenten Anwendung der Subsidiaritätsüberprüfung, wie sie im Vertrag von Lissabon vorgesehen ist.

Einheit in Vielfalt statt Einheitsunion

Vor allem aber ist es das Konzept einer flexiblen EU, das eine Chance bieten könnte, sich dem Ideal einer „EU Demoicracy“ anzunähern. Durch eine engere Kooperation in einigen Politikfeldern und die Möglichkeit, sich in anderen Feldern nicht zu beteiligen, würde die EU nur dort tätig werden, wo sie die Handlungsmöglichkeiten nationaler Demokratien erweitert. Eingriffe in die nationale politische Selbstbestimmung wären damit eingedämmt. Nationale Parlamente würden verstärkt diskutieren, wann Politikfelder europäisch geregelt werden sollten und wann nicht. Europäische Politik würde damit in nationalen Parlamenten eine Aufwertung und eine stärkere Politisierung erfahren. Insgesamt könnten die Bürger durch ihre Vertreterinnen und Vertreter in nationalen Parlamenten die Politik der europäischen Integration stärker beeinflussen. In dieser Perspektive wird die Idee einer immer engeren Union abgelehnt, doch eine Vertiefung der Integration in bestimmten Politikfeldern ist durchaus erwünscht. Eine flexible Integration bietet damit einen Ausweg aus dem Demokratiedefizit der Europäischen Union.

Neben diesem normativen, demokratietheoretischen Argument für ein flexibles Europa spricht aber auch aus sozialdemokratischer Perspektive einiges für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Der europäische Integrationsprozess zeichnet sich durch eine Asymmetrie zwischen negativer und positiver Integration aus: Fritz Scharpf hat in seinen Arbeiten wiederholt herausgearbeitet, dass marktschaffende Politik, wie die Beseitigung von Handelshemmnissen, bereits weit fortgeschritten ist, während marktkorrigierende Politik, wie die Festlegung arbeits- und sozialrechtlicher Standards auf europäischer Ebene, kaum entwickelt ist.

Aktuell wird dieser „Systemfehler“ der europäischen Integration bei der Strategie der Kommission zur Errichtung des digitalen Binnenmarkts deutlich: Das vorrangige Ziel der Europäischen Kommission im Bereich der Plattformökonomie ist, Markzugangsbeschränkungen abzubauen und Online-Plattformen ein politisches Umfeld zu schaffen, in dem sie sich wirtschaftlich am besten entwickeln können. Arbeits- und verbraucherrechtliche Bedenken, die in vielen Mitgliedstaaten hinsichtlich eines Machtzuwachses von Online-Plattformen herrschen, werden weitestgehend ausgeblendet. Mehr noch: Die Kommission versucht aktiv, regulatorische Bestrebungen auf Ebene der Mitgliedstaaten zu verhindern, indem die Hürden für Marktzugangsbeschränkungen im digitalen Binnenmarkt sehr hoch gesetzt werden.

Eine Sozialunion bleibt vorerst Illusion

Diese Asymmetrie zwischen positiver und negativer Integration hat nur bedingt etwas mit den politischen Mehrheitsverhältnissen in Europa zu tun. Die Ursache liegt vielmehr in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: Im Laufe der Jahrzehnte haben die in den Römischen Verträgen kodifizierten wirtschaftlichen vier Grundfreiheiten Verfassungsrang bekommen und ihnen wurde Vorrang vor nationalem Recht eingeräumt. In der Folge kam es zu einer rasanten Binnenmarktintegration, deren Fokus auf der Beseitigung von Handelshemmnissen lag. Nationale Schutzstandards gerieten unter den Verdacht der Europarechtswidrigkeit und wurden zunehmend abgebaut. Eine Umprogrammierung der Gesetzgebung und ein stärkerer Fokus auf marktkorrigierende Maßnahmen ist theoretisch durch die europäische Legislative möglich, faktisch wird dies aber durch die in der Gemeinschaftsmethode vorgesehenen hohen Mehrheitserfordernisse in Rat und Parlament verhindert. Politische Entscheidungen sind da häufig nur im Bereich des kleinsten gemeinsamen Nenners möglich. Diese strukturellen Bedingungen sind ausschlaggebend für den wirtschaftsliberalen Kurs des europäischen Integrationsprozesses der letzten Jahrzehnte. Ulrike Guérot diagnostiziert dies treffend, wenn sie schreibt: „Die EU macht immer nur Binnenmaktintegration, sie kann nichts anderes, sie ist politisch und sozial amputiert“. Progressive Politiker sollten diese strukturellen Defizite ernst nehmen. Die Europäische Union wird in der jetzigen Form auf absehbare Zeit keine stärkere Rolle im sozialen Bereich übernehmen.

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten könnte einen Ausweg aus diesem strukturellen Dilemma bieten und die Problemlösungsfähigkeit des politischen Systems der EU erhöhen. Folgt man dem dritten Szenario, wie es im Weißbuch der Europäischen Kommission zur Zukunft der EU beschrieben ist („wer mehr will, tut mehr“), könnte sich eine „soziale Avantgarde“ zusammenschließen und im Bereich Wirtschaft und Soziales stärker kooperieren. Konkret könnte sich diese Koalition auf eine Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung einigen, Mindeststandards der sozialen Grundsicherung festlegen, um für alle gleiche Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, sowie die europäische Strukturförderung durch einen neuen Fonds ausbauen, der auf öffentliche Investitionen ausgerichtet ist und konjunkturelle Impulse setzen kann. Diverse Maßnahmen, die Sozialdemokraten seit langem fordern, könnten zunächst in einem kleinen Zirkel von Mitgliedstaaten umgesetzt werden.

Eine Flexibilisierung des Integrationsprozesses kann aber auch in die andere Richtung vorteilhaft sein. Falls das Vorantreiben progressiver Leuchtturmprojekte aufgrund mangelnden politischen Willens nicht durchsetzbar ist, könnten durch „Opt-out“-Mechanismen nationale Schutzstandards dem Zugriff durch die europäische Ebene entzogen werden. Die Mitgliedstaaten bekämen so die Möglichkeit, das zum Teil auf sensiblen Kompromissen beruhende nationale Regelwerk stärker zu schützen.

Bei grundsätzlicher Zustimmung zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ist es wichtig, dass die Flexibilisierung des Integrationsprozesses politisch kontrolliert wird. Progressive europäische Leuchtturmprojekte entfalten nur eine geringe Wirkkraft, wenn nur sehr wenige Mitgliedstaaten bereit sind, sich der sozialen Avantgarde anzuschließen. Anders herum kann die Effektivität der europäischen Gesetzgebung unterminiert werden, wenn eine immer größere Zahl an Mitgliedstaaten die Möglichkeit des Ausstiegs nutzt. Insgesamt kann eine solche Flexibilisierung zu einer gefährlichen Zerfaserung der Europäischen Union führen. Es wäre Aufgabe der Europäischen Kommission zu definieren, unter welchen Umständen eine begrenzte Anzahl von Mitgliedstaaten in einem Politikfeld voranschreiten beziehungsweise aus einem bestehenden Regelwerk aussteigen kann.

Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten kann ein Mittelweg sein zwischen dem Status quo eines wirtschaftsliberalen Weiterlavierens und der eher idealistischen Vorstellung einer einheitlichen europäischen Sozialunion.

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