Haushaltspolitik der Zukunft oder der ‚alten Schule‘? | EBD Exklusiv zum MFR-Sondergipfel
„Angesichts der verschobenen Anforderungen an Europa könnte man annehmen, dass die Prioritäten des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU angepasst wurden. Stattdessen erkennt man viele Muster der alten Schule“, kommentierte Dr. Linn Selle, Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD), beim EBD Exklusiv zum Sondergipfel EU-Haushalt am 24. Februar 2020. Anstatt an einem Strang zu ziehen und sich gemeinsam den aktuellen europäischen Herausforderungen zu stellen, würde primär die Verfolgung von Eigeninteresse unter den Mitgliedstaaten deutlich. Selle hatte sich vom Sondergipfel präzise politische Grundsätze erhofft, die mit den Ausgaben des zukünftigen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) in Verbindung stehen: In erster Linie eine Verknüpfung von EU-Geldern mit rechtstaatlichen Grundsätzen und notwendigen Strukturreformen.
Für einen Bericht über das Gipfeltreffen mit anschließender Diskussion hatte die EBD Vertreterinnen und Vertreter von Mitgliedsorganisationen und institutionelle Partner zum EBD Exklusiv geladen. Einschätzungen aus Sicht der Bundesregierung gaben Stefan Bredohl, Leiter des mit EU-Finanzfragen betrauten Referats E 11 des Auswärtigen Amtes, und Thomas Westphal, Leiter der Europaabteilung im Bundesfinanzministerium. Zudem nahmen Dr. Jörg Wojahn, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, Stefan Lehner, Experte und ehemaliger Direktor der Generaldirektion Haushalt der Europäischen Kommission, sowie Georg Pfeifer, Leiter des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Deutschland, Stellung zur Sicht der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments. Moderiert wurde die Veranstaltung von EBD-Generalsekretär Bernd Hüttemann.
Wie alle sieben Jahre wird aktuell wieder ein neuer MFR innerhalb der EU ausgehandelt. Nach dem Ausstieg Großbritanniens, einem der wichtigsten Beitragszahler, muss sich die EU der Herausforderung stellen, eine Lücke von 75 Milliarden Euro im EU-Haushalt zu kompensieren. Am vergangenen Donnerstag tagten die 27 Staats- und Regierungschefinnen und -chefs auf einem Sondergipfel des Europäischen Rates in Brüssel. Ziel war es, sich von Ratsseiten auf einen Entwurf zu einigen, der als Basis für die weiteren Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament dienen kann. Doch selten waren diese Verhandlungen so schwerfällig wie im aktuellen Fall des MFR für die Periode 2021-2027.
Nachdem das kürzlich veröffentlichte Arbeitsprogramm der Kommission große Hoffnungen geweckt hatte, äußerten die Panelisten des EBD Exklusiv ihre Enttäuschung über den misslungenen Einstieg in die MFR-Verhandlungen. Während des Sondergipfels waren unter den 27 Staats- und Regierungschefinnen und -chefs verhärtete, alt bekannte Verhandlungspositionen zu beobachten. Für Kompromissbereitschaft, da waren sich die Teilnehmenden des Panels einig, fehle aktuell noch der nötige Druck auf die Mitgliedstaaten. Dort müsse Bewegung einsetzen, um die hochgesteckten Ziele wie den European Green Deal, erreichen zu können, so EBD-Präsidentin Selle.
Der Ursprungsgedanke des EU-Haushalts beruhe auf Solidarität: wirtschaftlich starke Mitgliedstaaten greifen den wirtschaftlich schwächeren unter die Arme. So sollen Wachstumsmöglichkeiten und Zusammenhalt geschaffen werden. In Relation zu nationalen Haushalten sind die Investitionen in den EU-Haushalt eher moderat. Dennoch kam es bei diesem Sondergipfel erneut zu Nettozahlerdebatten. Während einige der Mitgliedstaaten stark auf Unterstützung aus dem EU-Haushalt angewiesen sind und den Kohäsionfonds weiter groß halten möchten, beklagen sich andere, dass sie weit mehr einzahlen würden als sie aus EU-Töpfen zurück bekämen. Auch hier korrigierte Selle, dass dies die finanziellen Vorteile einer EU-Mitgliedschaft, von denen besonders Deutschland profitiert, ignoriere. Diese Wahrnehmungsdifferenzen lassen zurzeit Kompromisse und die notwendige Einstimmigkeit im Europäischen Rat in weite Ferne zu rücken.
Solidarische Teilhabe werde zudem durch das System von Rabatten einzelner Mitgliedstaaten – einschließlich dem ‚Deutschenrabatt‘ – untermauert. Zurzeit liegt Deutschlands Beitrag zum EU-Haushalt bei 0,75 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE). Gemessen an seiner Wirtschaftsleistung zahlt Deutschland weniger als die meisten anderen EU-Staaten. Selle betonte die Position der EBD diesbezüglich sehr deutlich und forderte die Abschaffung des „Deutschenrabatts“ und eine Aufstockung des Haushalts auf über 1,0 Prozent des BNE. Dadurch solle die Bundesregierung, auch hinsichtlich der bevorstehenden deutschen Ratspräsidentschaft, ein deutliches Statement für einen starken MFR setzen. Bisher wird eine mögliche Erhöhung der deutschen Beitragszahlung in der Bundesregierung kritisch gesehen.
In ihrem Abschlusskommentar bezog sich Selle auf eine repräsentative Umfrage der EBD von Dezember 2019 zum „Wunsch-Haushalt“ der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands. Diese deckt sich in keinem Fall mit den tatsächlichen Prioritäten des EU-Haushalts. Sie appellierte, die direkt gewählten Vertreterinnen und Vertreter im Europäischen Parlament stärker in die MFR-Verhandlungen einzubeziehen. Die Teilnehmenden des Panels kamen zu dem Schluss, dass der nächste Vorschlag zum MFR deutliche inhaltliche Prioritäten beinhalten soll. Die Hoffnung auf eine zukunftsfähige europäische Finanzpolitik und mehr Kompromissbereitschaft seitens der EU-Staaten bleibt bestehen.