Heinrich-Böll-Stiftung: Integration und Balance – Konturen der politischen Krise der EU
Die deutsche und die französische Regierung lassen ihre Beamtinnen und Beamten routinemäßig an der Planung der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Jubiläum des Elysée-Vertrages basteln. Der britische Premierminister plagt sich mit einer Rede, in der er seinem Land erklären will, wie es aus der EU herauskommen und doch drinnen bleiben könnte, wie es seinen Beitritt zur EU rückgängig machen könnte, ohne auszutreten. Routine ist in diesen Zeiten großer Anspannung pure Verdrängung.
So mag es sinnvoll sein, sich Zeit für einen kurzen Rückblick zu nehmen, um die politische Krise der EU besser zu verstehen. Es jährt sich ja mit 1913 zum hundertsten Mal das letzte Jahr vor dem Beginn der „Epoche der Kriege und Revolutionen“, die Lenin mit dem Ersten Weltkrieg eröffnet sah und die fast das ganze 20. Jahrhundert umfasst. Die EU mit ihren Wurzeln in der Nachkriegszeit und ihrer entscheidenden Formationsphase in den Hochzeiten des Kalten Krieges ist ein Produkt dieser kriegerischen und revolutionären Epoche, Gegensatz zu und doch auch Teil von ihr.
Es ist gebräuchlich und auch nicht ganz verkehrt, dem „Europa des Gleichgewichts der Mächte“ vor dem Ersten Weltkrieg als einer zu Scheitern und Krieg verurteilten europäischen politischen Ordnung das „Europa der Integration“ gegenüberzustellen, das die europäischen Staaten und Gesellschaften zu ihrem Friedensprojekt gemacht hätten. Joschka Fischer intonierte als deutscher Außenminister mit diesem Kontrapunkt die europäische Verfassungsdiskussion zu Beginn des Jahrhunderts durch eindrucksvolle Reden. Doch stecken in der Betonung dieses Kontrapunkts mindestens zwei Gefahren: Die eine ist, den Grad der Integration der europäischen Gesellschaften vor dem ersten Weltkrieg zu unterschätzen, weil es trotzdem zum Krieg kam. Die andere Gefahr lauert in der Annahme, dass mit zunehmender Integration die Frage der Balance unter den Mächten und Staaten, die sich zur Integration bereitfinden, mehr und mehr irrelevant werde.
1913/2013: Gesellschaftliche Integration
Tatsächlich war die Integration vor 1914 auf gesellschaftlicher Ebene durch wechselseitige wirtschaftliche Verflechtung, durch adlige Sippschaften, bürgerliche Kultur, akademischen Austausch, künstlerische Avantgarde und – nicht zu vergessen – durch Gewerkschaften und die Zweite Internationale der Arbeiterparteien auf teils homogene, teils antagonistische Weise weit fortgeschritten. Eben deshalb war der Schock des Kriegsausbruchs so groß und konnte nur durch nationalistischen Rausch in den beteiligten Staaten zeitweise überspielt werden. Grundlage der europäischen Gemeinsamkeit war eben im Wesentlichen die gemeinsame Überlegenheit über den Rest der Welt gewesen. Mit und nach dem Ersten Weltkrieg war es mit dieser Art Gemeinsamkeit vorbei. Die Rivalitäten um die Beherrschung der Welt schlugen in Herrschaftsverhältnisse untereinander um. Dennoch ging die „Welt von gestern“ (Stefan Zweig) nicht an geringer gesellschaftlicher Integration quer durch Europa zugrunde, sondern am Mangel an politischer Integration unter den europäischen Staaten. Stattdessen erwuchs aus den Rivalitäten des europäischen Expansionismus rund um den Globus wachsendes wechselseitiges Misstrauen. Dieses wohlbegründete Misstrauen untereinander bildete die Schmierfläche, auf der die europäischen Staaten in das Desaster des Zweiten Weltkrieges schlitterten.
Sicher ist heute mit dem europäischen Binnenmarkt die wirtschaftliche Verflechtung weiter gediehen als 1913, aber gilt das durchgehend für andere Felder gesellschaftlicher Beziehungen? Wohl kaum. Die entscheidenden gesellschaftlichen Integrationsfortschritte sind ohnehin eher Ausdruck der Globalisierung als einer „Europäisierung“. Für Globalisierung war nicht nur in Deutschland „Amerikanisierung“ das ursprüngliche Schimpfwort. Der Angleichungsprozess unter den westeuropäischen Gesellschaften war vor allem ein gemeinsamer Annäherungsprozess an Entwicklungen in den USA. Was heute Europäisierung heißt, ist weitgehend ein Subtext der Globalisierung. Deutliches Indiz ist der Bedeutungsverlust des Deutschen, aber auch des Französischen gegenüber Englisch und Spanisch, die ihre Bedeutung nicht aus der Stellung Spaniens und Großbritanniens in Europa, sondern aus ihrer weltweiten Verbreitung ziehen. Die freilich geht auf die Rolle Spaniens und Großbritanniens als für längere Zeit jeweils führende europäische Weltmacht zurück.
Die Mitgliedstaaten haben sich verändert
Es wäre ein Irrtum, den Unterschied zwischen 1913 und 2013 vor allem in einem viel weiteren Zusammenwachsen der europäischen Gesellschaften heute zu sehen. Der große Unterschied besteht in der Veränderung der europäischen Staaten, in erster Linie natürlich der EU-Mitgliedstaaten. Und zu dieser Veränderung haben sowohl Verständigungen unter Regierungen, als auch Mentalitätsveränderungen in den Gesellschaften, über die die Regierungen nicht hinweggehen konnten, beigetragen. Die direkten gesellschaftlichen Beziehungen über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg waren vielfach staatlich und politisch vermittelt, jedenfalls aber lange Sache von Minderheiten.
Weniger die zwischengesellschaftlichen Verbindungen als die innergesellschaftlichen, demokratischen und rechtstaatlichen Veränderungen der sich untereinander angleichenden Mitgliedstaaten bilden wohl immer noch das Fundament der europäischen Integration. Wer könnte sich sicher sein, dass dieses Fundament in allen Mitgliedstaaten hält und dass Risse im Fundament dieses oder jenes Mitgliedstaates durch zwischenstaatliche gesellschaftliche Solidarität schnell gekittet werden?
Integration erledigt nicht das Problem der Balance
Dass mit zunehmender Integration die Balance unter den Mitgliedstaaten und die historischen Gleichgewichtsfragen der europäischen Mächte immer unwichtiger würden, ist ein gefährlicher Denkfehler. Mit der Währungsunion befindet sich die EU gerade in einem Großexperiment, dessen Ergebnis sein könnte, dass an der mangelnden Balance der ganze Ansatz der europäischen Integration in Frage gestellt wird.
Man muss sich nochmal die Entstehungsbedingungen der EU zur Zeit der Ausarbeitung und Ratifizierung der Römischen Verträge bewusst machen. 1956 war das Stichjahr. Mit der Suezkrise erhielten die kolonialen Träume Frankreichs und Englands den entscheidenden Dämpfer. Die beiden Supermächte zogen ihren Ambitionen klare Grenzen. Die Rückkehr zur alten Machtvollkommenheit war definitiv verbaut. Mit der Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch sowjetische Truppen, ohne dass der Westen eingegriffen hätte, war klar geworden, dass an der Spaltung Europas und damit Deutschlands nicht zu rütteln war. Man musste und konnte mit diesem status quo auf längere Dauer rechnen. Frankreich, von dessen Kooperationsbereitschaft mit Deutschland das Gelingen der EG entscheidend abhing, musste auf absehbare Zeit nicht mit einem größeren Deutschland rechnen und konnte sich deshalb sicher sein, in der EG ein Gleichgewicht mit Westdeutschland wahren zu können, ohne auf äußere Mitspieler angewiesen zu sein. Deshalb brauchte De Gaulle keine britische Mitgliedschaft. Er musste in einer britischen Mitgliedschaft einen Störfaktor im EWG-Gefüge sehen, da sie den politischen Spielraum der Bundesrepublik gegenüber Frankreich erhöhte.
Die wirkliche Erschütterung im bestehenden Gefüge von Integration und Balance in Westeuropa brachte aber erst 1989 die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, indem sie die deutsche Einigung und die Erweiterung der EU nach Mittel-Ost- und Süd-Ost-Europa ermöglichte
Gestörte Balance, gestörte Integration
Wie sollte man nach der Zerstörung der Ausgangsbedingungen der europäischen Integration im Westen mit den neuen, fundamental veränderten Bedingungen der europäischen Einigung umgehen, vor allem wie sollten Frankreich und Großbritannien mit ihnen umgehen? Für die deutsche Politik gab es diesmal wirklich nur eine Alternative: deutsche Vereinigung in der EU und Erweiterung der EU nach Osten und Südosten, um die deutsche Einigung im europäischen Rahmen zu halten und durch die wachsende Zahl der Akteure in der EU die Möglichkeiten zu erweitern, die Interessen unter den größten drei Mitgliedstaaten erneut auszubalancieren.
Für Frankreich und Großbritannien stellten sich die Fragen anders und sie entschieden sich für andere, ja entgegengesetzte Wege. Großbritannien setzte auf eine Lockerung der politischen Bindungen durch die Union, um in einem rasch erweiterten, größeren Rahmen das Problem der politischen Balance zu entspannen. Frankreich dagegen setzte auf stärkere Einbindung des vereinigten Deutschland in einen engeren institutionellen Rahmen. Entsprechend dem ökonomisch beschränkten Zeitgeist und der Wahrnehmung von Deutschlands Gewicht als Stärke der Bundesbank wurde für Mitterand die Währungsunion zum Schlüssel der Lösung des Balanceproblems zwischen Frankreich und Deutschland, den Grundpfeilern der bisherigen europäischen Einigung. So wurde die Währungsunion aus Sicht von Mitterand und damit auch von Kohl zur Frage von Krieg und Frieden.
Das traurige Ergebnis der entgegengesetzten Richtungsentscheidungen Frankreichs und Großbritanniens und des „alternativlosen“ Weiter so Deutschlands ist im Moment, dass Frankreich sein politisches Gewicht innerhalb der EU nur halten kann, indem es seine „proeuropäische“ Interventionsmacht in Nordafrika, seinem früheren Kolonialgebiet zur Geltung bringt. Das wird Frankreichs Staatsschulden nicht verringern, die EU aber vor die Frage stellen, worin ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eigentlich besteht. Soll Frankreich zum europäischen Gendarmen in Nordafrika werden? Dann muss auch ein angemessenes Gehalt bezahlt werden.
Für Großbritannien, das Kontinentaleuropa auf dem Weg in die Eurozone nicht folgen wollte, ergab sich spätestens mit der Schuldenkrise mehrerer Euroländer ein Dilemma: Die Euroländer konstituierten sich in ihren Anti-Krisen-Maßnahmen immer stärker als eigene Staatenunion in der EU, auf die Großbritannien über seine Mitgliedschaft in der EU nur noch wenig Einfluss nehmen konnte. Damit verlor aber auch seine Mitgliedschaft selbst an politischer Bedeutung. So begründet jedenfalls Premierminister Cameron seinen politischen Vorschlag, sich aus der EU Stück für Stück hinaus zu verhandeln und doch die Mitgliedschaft nicht aufzugeben.
Jochen Buchsteiner, der London-Korrespondent der FAZ, fasst Camerons Position in einem Leitartikel mit der Überschrift "Britanniens Rebellion" zusammen: „Er sieht Britannien im Recht und begründet die Notwendigkeit neuer Verhandlungen mit dem Übergang der EU in eine Zweiklassengesellschaft. Wenn die Eurogruppe voranschreiten wolle und damit de facto die Führung in der EU übernehme, sollten den weniger integrierten Staaten neue Mitgliedsbedingungen zustehen, lautet sein Argument. Ganz von der Hand zu weisen ist es nicht. Auch deshalb sind so viele Europäer besorgt.“ (15.1.)
Ein beunruhigendes Szenario
Es droht der EU also folgendes Szenario: Ein Abdriften Großbritanniens und in der Folge vielleicht auch anderer Mitgliedstaaten, ein „Kerneuropa“, dessen „deutsch-französisches Tandem“ aus dem Rhythmus gekommen ist, das mit den Problemen an seiner Süd-Ost-Flanke nicht zurechtkommt und in der europäischen öffentlichen Meinung es zunehmend mit einem deutschen Dominanzproblem zu rechnen hat. Eine jüngste Umfrage in Frankreich und Deutschland aus Anlass des Elysée-Jubiläums zeigt eine unter Französinnen und Franzosen verbreitete Wahrnehmung einer deutschen Dominanz im wechselseitigen Verhältnis. So hat die Schuldenkrise einiger Euroländer nicht nur die grundlegenden Schwierigkeit einer Währungsunion unter sehr unterschiedlichen Mitgliedstaaten ans Licht gebracht, sondern vor allem die Schwierigkeit, ja die drohende Unfähigkeit der EU, mit den neuen Gegebenheiten nach 1989 politisch klug umzugehen. Deutschland hat sich treiben lassen und sich mit Helmut Kohl dem französischen Weg geöffnet. Als Konzept ein Parallellogramm von „Vertiefung und Erweiterung“ beschworen. Tatsächlich kam viel Halbes und nichts Ganzes dabei heraus. Vielleicht war die britische Vorstellung, die über einen gemeinsamen Binnenmarkt und die Zusammenarbeit der Staaten in der Außen- und Sicherheitspolitik kaum hinausreichte, weitsichtiger, aber deshalb noch lange nicht realitätstüchtiger. Worin Angela Merkel jedoch zuzustimmen ist: Eine EU ohne Großbritannien kann sie sich nicht vorstellen. Diese Ansicht teilt auch die Obama-Regierung. An die Stelle innerer Balance in der EU träte dann nämlich fast zwangsläufig die Notwendigkeit eines äußeren Schlichters. In diese Rolle wollen die USA mit ihren pazifischen Sorgen nicht geraten.
EU und Eurozone befinden sich in einem extremen Stresstest: Wie kann das gegenwärtige ökonomische und finanzpolitische Übergewicht der Bundesrepublik in der Eurozone ausgeglichen werden? Und wie kann in der EU eine politische Balance gehalten werden, wenn Großbritannien sich durch die Eurozone zunehmend marginalisiert sieht?
Seit der Überwindung der Spaltung Europas und der Vereinigung Deutschlands ist Integration und Balance in der EU nur mit einer aktiven Mitgliedschaft Großbritanniens dauerhaft hinzukriegen. Italien, Spanien, Polen, die Benelux-Staaten und all die vielen anderen EU-Mitglieder wurden in diesem Text nur deshalb nicht genannt, weil sie nicht im Zentrum des hier erörterten Problems von Integration und Balance stehen. Ihre Mitwirkung wird freilich entscheidend dafür sein, ob das Problem eingehegt und vielleicht sogar gelöst werden kann.
Der Notruf nach mehr Europa und Integration wird dem Mangel an Balance nicht abhelfen.