EU-Erweiterung, Außen- & Sicherheitspolitik, Europäische Wertegemeinschaft, Institutionen & Zukunftsdebatte

Hüttemann in Cadenabbia | Brexit = Game over? Nicht, wenn wir mehr Demokratie wagen!

Nachdenken über Europa am Comer See: Alljährlich lädt die Konrad-Adenauer-Stiftung internationale Europaexperten zu Politikdialog und Analyse in die Villa Collina in Cadenabbia ein. Das Thema in diesen Tagen: „The post-Brexit reflection process on the EU’s future“. EBD-Generalsekretär  Bernd Hüttemann warnt in seinem Diskussionsbeitrag zur Zukunft der EU27 vor kopflosem Reformeifer: „Wir müssen uns auf demokratische Werte besinnen, bevor wir wieder technokratisch die EU reformieren wollen!“ Populismus und Anti-Establishment-Agitation sei nicht mit Vertragsänderungen zu begegnen, sondern mit überzeugenden Lösungen und Mut zum Dialog mit den gesellschaftlichen Kräften. „Für die Europäische Bewegung ist gerade unter diesen Rahmenbedingungen ein Paradigmenwechsel nötig. Es darf nicht länger nur um die Demokratisierung der Europäischen Union, sondern des gesamten politischen Systems, einschließlich der Nationalstaaten, gehen.“

Bernd Hüttemanns Statement im Volltext (es gilt das gesprochene Wort):

Wir erleben eine schwere Krise der westlichen Demokratie, die jedoch zum größten Teil selbstverschuldet ist. Schon beim französischen oder niederländischen Verfassungsvertragsreferendum und erst recht beim Brexit haben wir irgendwie gemerkt, dass es nicht wirklich nur um Europapolitik ging. Auch Trumps Überraschungscoup in den USA hat gezeigt, dass sich Populismus in liberalen Demokratien gegen das nationale Establishment wendet. So war auch in Großbritannien die „Anti-Westminster-Stimmung“ mindestens genauso stark wie „Anti-Brüssel“ zu spüren.

Je mehr die Nationalstaaten trotz Europäischer Einigung in Probleme geraten, desto mehr muss man um das europäische Projekt bangen. Viele fürchten sich schon jetzt vor 2017. Dabei könnte „das schreckliche Wahljahr“ sogar positiv betrachtet werden: Es schafft Luft zum Nachdenken! Es ist vollkommen klar, dass sich kaum jemand bis zum Ende des französischen Wahlkampfs im Mai öffentlich Gedanken macht, wie man eine tiefgreifende, gar vertragsändernde europäische Reform hektisch vorantreiben könnte.

Das ist auch den rund 250 Mitgliedsorganisationen der Europäischen Bewegung Deutschland klar, die trotz vorausschauender Politischer Forderungen nicht den Blick für die Realpolitik verlieren. Gerade deshalb steht die EBD für mehr Demokratie auf allen Ebenen ein, für mehr Pluralismus und Transparenz und für die Achtung der Gemeinschaftsmethode. Mehr noch: Die EBD macht sich dafür stark, dass bei Vertragsänderungen auf keinen Fall die öffentliche Debatte vergessen werden darf. Wenn die gesellschaftlichen Kräfte Europas missachtet oder vergessen werden, dann besteht zu Recht die Befürchtung, dass sich viele Interessengruppen und -verbände vom europäischen Politikprozess auf’s Neue abgehängt fühlen – nicht nur TTIP lässt grüßen.

Wie viel Reform darf’s sein?

Die wirkliche rote Start-Linie für ein neues Nachdenken über eine neue Verfasstheit Europas bildet die französische Präsidentschaftswahl, nicht die deutsche Bundestagswahl. Wobei zu erwarten ist, dass die Wahlprogramme der wichtigsten deutschen Parteien keine weitreichenden Reformvorschläge machen werden. Hatte man noch während der beginnenden Wirtschafts- und Finanzkrise sogar von Regierungsmitgliedern aller Couleur sogar föderale Vorstellungen zur Verfasstheit Europas vernommen, so ist dies für 2017 nicht mehr zu erwarten. Dennoch, auch hier in der Adenauer-Villa am Comer See hört man allenthalben, die Vertiefung der Eurozone müsse spätestens in zwei Jahren auch vertraglich angegangen werden. Dies würde allerdings ein „Kerneuropa“ bedeuten, von dem überhaupt nicht klar ist, wie ein Eurozonenparlament oder eine noch politischere Kommission sich die Organe der sonstigen Europäischen Union einpassen könnte. Wäre nur von der Eurozonendebatte die Rede, dann könnte man sich in der Tat vorstellen, dass es zwei Zonen geben könnte: eine Eurozonen-EU und eine Binnenmarkts-EU, die selbst dem Vereinten Königreich das Gesicht wahren und Beitrittskandidatenländern den Zutritt erleichtern könnte. Die Debatte ist sicher wichtig, doch sie greift zu kurz.  Wenn wir das Projekt Europa langfristig retten wollen, müssen wir tiefer ansetzen und uns auf die demokratischen Werte besinnen, bevor wir lediglich technokratisch an EU-Reformen herumschrauben.

Die Fronten verlaufen inzwischen querbeet in Europa. Zunächst gab es vor allem eine Nord-Süd-Finanzfront, mit der „Flüchtlingskrise“ hat sich auch ein Graben zwischen liberaler Demokratie und illiberalen, zunehmend autokratischen Gesellschaften gebildet. Und hier kommen wieder die national-staatlichen Demokratien ins Spiel. Die EU kann noch so demokratisch aufgebaut sein, wenn sich die Erosion der nationalen Demokratie fortsetzt. Dann wird keine EU-Reform greifen können. Dessen müssen wir uns bewusst sein!

So oder so, die EU wird sich verändern müssen.“ Für die Europäische Bewegung Deutschland ist dabei der Lissaboner Vertrag in seiner jetzigen Form entscheidend. Der EBD geht es um die Stärkung des parlamentarischen Demokratieprinzips und der Gemeinschaftsorgane (Stichwort „Spitzenkandidaten“), sowie um die Achtung der Wertegemeinschaft und der Rechtstaatlichkeit. Gleichzeitig bietet der EU-Vertrag mit dem Artikel 11 eine hervorragende Grundlage für eine neue demokratische, transparente Debattenkultur unter Einschluss der repräsentativen Verbände, der organisierten Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements. Aus diesem Grunde unterstützt die EBD die Roadmap für die Spiegelung des Art. 11 auch auf die nationale Ebene.

Gestörte Kommunikation

Es ist symptomatisch, dass einige Berichte von Brüsseler Institutionen nicht wirklich in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert werden: Die Verbesserung von Transparenz- und Rechenschaftspflichten im europäischen Gesetzgebungsprozess (Giegold-Bericht), der Brok-Bresso-Report zu Verbesserungen innerhalb des bestehenden Vertrages sowie der Vertragsänderungsbericht von Guy Verhofstadt. Allen ist gemeinsam, dass natürlich der Parlamentarismus und die Gemeinschaftsmethode gestärkt werden sollte. Hinzu kommt der Fünfpräsidentenbericht zur Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion. Aber von ihm wird in deutschen Regierungskreisen ohnehin gesagt, dass er „nur“ eine klare Kommissions-Agenda vertrete. All diese Berichte haben es nicht geschafft, eine vorurteilsfreie demokratische Debatte zur Zukunft der Europäischen Union bei uns in Deutschland zu entfachen. Hier kommt ein weiterer Punkt der EBD-Politik ins Spiel: Die Kommunikation zwischen den einzelnen Regierungsämtern funktioniert vielleicht noch innerhalb des „Closed Shop der Sherpas„, eine echte Einbindung von parlamentarischer repräsentativer Demokratie ist kaum noch möglich, vom strukturierten Dialog mit gesellschaftlichen Kräften ganz zu schweigen. Selbst wenn es dazu käme, eine echte Vertragsreform der EU anzugehen, so wird die übliche Sherpa-Methode dazu führen, dass es erhebliche Widerstände gegen eine weitere „Reform von oben“ geben wird. Umgekehrt wird es nicht wirklich zu einer „von unten gewünschten“ Europäischen Armee kommen, so sehr sich das die Bürgerinnen und Bürger (laut Umfragen) und sogar der aktuelle deutsche Koalitionsvertrag vorstellen könnten. An dieser Stellen dürften nationale Eliten blocken. Machen wir uns klar: kein deutscher Soldat darf ohne Parlamentsbeschluss irgendwo hingeschickt werden, auch nicht unter einer Europafahne.

Für die Europäische Bewegung ist gerade unter diesen Rahmenbedingungen ein Paradigmenwechsel nötig. Es darf nicht länger nur um die Demokratisierung der Europäischen Union, sondern des gesamten politischen Systems, einschließlich der Nationalstaaten, gehen. Fragen der Korruption, mangelnder Pressefreiheit, der Intransparenz gehen Hand in Hand mit der demokratischen Verfassung und Verfasstheit der Nationalstaaten. Zu lange haben sie unter dem Deckmantel von „Besserer Rechtsetzung“ mit viel Medienspin parlamentarische und außerparlamentarische Opposition und Minderheiten marginalisiert.

„Despotie der 28 nationalen Mehrheiten“ verhindern

Wenn das Wort Giovanni Sartoris stimmt, dass Demokratie kompliziert sein muss, damit sie funktioniert und dass sie einfach sein muss, um verstanden zu werden, dann hat die Europäische Union als politisches System alle Chancen, eine gute Demokratie zu werden. Doch die nationalen Eliten müssen sich für mehr Demokratie auf allen Ebenen einsetzen. Sie müssen sich nicht nur zu Europa bekennen, sondern zur liberalen pluralistischen Demokratie. Sonst kommt es frei nach Alexis de Tocqueville zur „Despotie der 28 nationalen Mehrheiten“.

Und da wir für eine neue demokratische Kultur in Europa mehr als nur eine Große Koalition brauchen, möchte ich hier im Garten vom großen Europäer Konrad Adenauer die Rede Willy Brandts europäisch umschreiben: „Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, dass nicht nur durch Anhörungen, sondern auch durch ständige Fühlungsnahme mit den repräsentativen Gruppen unserer Völker und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jede Bürgerin und jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staaten und Gesellschaft mitzuwirken.“


Vom 16. bis 18. November 2016 veranstaltet die Konrad Adenauer Stiftung das Europaseminar „The post-Brexit reflection process on the EU’s future“ in der Villa La Collina in Cadenabbia. Geleitet wird das Seminar von Olaf Wientzek, Koordinator für Europapolitik der Konrad Adenauer Stiftung und EBD-Vorstandsmitglied. EBD-Generalsekretär Bernd Hüttemann nimmt daran als Panelist zum Europa der 27 teil.

Aus der Mitgliederschaft der EBD sind unter anderem der European Council of Foreign Relations mit Almut Möller, sowie die Bertelsmann Stiftung mit Isabell Hoffmann in Cadenabbia vertreten, ebenso die Abteilung für Europäische Grundsatzfragen des Deutschen Bundestags mit Leiter Jan Schlichting sowie Dr. Sebastian Seidel aus dem Bundeskanzleramt. Sie diskutierten u.a. mit Adam Isaacs, Abteilungsleiter des Europäischen Parlaments für transatlantische Beziehungen und G8, über die zukünftigen Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich. Wientzeks Vorgängerin, Dr. Céline-Agathe Caro, Senior Policy Analyst der KAS Washington, stellte mögliche Szenarien für die EU als globalen Akteur nach den US-Wahlen vor.

Ein weiteres Panel mit niederländischen und ungarischen Teilnehmern setzte sich mit dem aufkeimenden Populismus auseinander. Das ausführliche Programm der Cadenabbia-Konferenz können Sie hier nachlesen.

Die Diskussion kann live auf Twitter unter dem Hashtag #EuroComo verfolgt werden.

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