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Institutionen & Zukunftsdebatte

JEF | Kommentar zum Programm der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands 2020

“In Europa ist es, nicht erst seit Corona, 3 vor 12. Die Grundfesten der europäischen Einigung stehen unter Druck wie seit 1949 selten zuvor. Die Bundesregierung wählt für diese schwierige politische und gesellschaftliche Lage den richtigen Ansatz. Ihr Programm verdient aus unserer Sicht breite Unterstützung. Die Ambition, Moderatorin aber auch Motor sein zu wollen, wird der besonderen Stellung und Verantwortung Deutschlands sowie dem Stellenwert einer EU-Ratspräsidentschaft gerecht. Auch wenn es hier und da natürlich mehr sein dürfte, spiegelt das politische Programm derzeitige politische Notwendigkeiten wieder. Über die Jahre hat sich in der EU ein Reformstau gebildet, der dringend bearbeitet werden muss. Eine Ratspräsidentschaft kann und sollte Europa weder alleine retten, noch alle wichtigen Reformen gleichzeitig nach vorne bringen. Sie sollte aber in ihrer hervorgehobenen Stellung Schwerpunkte – auch wenn sie konfliktbeladen sein mögen – auf die Agenda setzen, die Mitgliedstaaten hinter sich einen und die europäischen Institutionen unterstützen. Mit dem EU-Budget, der bedrohten Rechtsstaatlichkeit, der europäischen Sozial-, Klima- und Digitalpolitik sind wichtige Schwerpunkte gesetzt. Die Bereiche Jugend und Demokratie sowie der Stellenwert visionärer Lösungen im Programm sind aus junger, pro-europäischer, föderalistischer Sicht etwas zu knapp.“ Malte Steuber, Bundesvorsitzender der JEF Deutschland, zum Programm der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands 2020.

Der richtige Ansatz für eine schwierige politische und gesellschaftliche Lage

Deutschland übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft in einer besonderen und schwierigen Zeit. Nicht nur die Corona-Krise stellt den Zusammenhalt in der EU, ihre Handlungsfähigkeit und ihren Mehrwert für alle Menschen in Europa auf die Probe. Bereits davor war deutlich, dass die EU Weiterentwicklungen braucht. Sie muss wieder in die Lage versetzt werden, auf europäische Herausforderungen auch wirksame europäische Lösungen liefern zu können. Allzu lange haben sich die EU-Mitgliedstaaten davor gedrückt, notwendige Reformen der EU-Politiken und EU-Institutionen anzupacken. Dieser fehlende Mut, diese Aufgabe anzugehen, hat die EU in der Corona-Krise eingeholt. Europäische Solidarität hat sich als nicht krisenfest erwiesen.

Hier wählt die Bundesregierung – die in den letzten Jahren nicht immer durch visionäre, mutige Schritte für eine Weiterentwicklung der EU aufgefallen war – mit ihrem Programm den richtigen Ansatz. Es ist wichtig, sich jetzt und intensiv um die stark bröckelnde Einheit Europas zu bemühen. Das ist nicht nur die zentrale Aufgabe dieser Ratspräsidentschaft, sondern auch eine wesentliche Grundvoraussetzung dafür, dass die EU zukünftig noch funktioniert und weiterentwickelt werden kann. Die europäische Asyl- und Migrationspolitik beispielsweise, funktioniert auch deshalb nicht mehr, weil der EU ein gemeinsames, gesamteuropäisches Verständnis von Asyl und Migration fehlt. Dies zu fördern und die europäischen Institutionen dabei zu unterstützen, ist richtig, wichtig und wird auch der besonderen Rolle Deutschlands in der EU gerecht. Europa – und gerade deshalb auch Deutschland – wird die Corona-Krise nur dann bewältigen, wenn es gemeinsam handelt. Dazu gehört auch, dass die EU-Mitgliedstaaten solidarisch füreinander einstehen. Zu Recht betont die Bundesregierung, der EU und den Mitgliedstaaten in ihrer Präsidentschaftsrolle den richtigen Weg nicht vorschreiben zu wollen. Hierfür haben wir in Europa gemeinsame Institutionen gewählt – vor allem das Europäische Parlament -, denen diese Kompetenzen übertragen sind.

Wichtige Signale für eine neue europäische Solidarität

Die Bundesregierung kann – und setzt – aber wichtige Signale für den Weg zu mehr Solidarität, wie zum Beispiel durch ihren späten, dann aber deutlichen, Einsatz für gemeinsame Schulden zur Abmilderung der Corona-Auswirkungen. Wir begrüßen in dem Zusammenhang vor allem, dass sich die Bundesregierung in ihrer Vorsitzrolle für eine Aufstockung und Weiterentwicklung des kommenden, siebenjährigen EU-Finanzrahmens einsetzt. Nur mit ausreichend finanziellen Mitteln kann die EU beispielsweise den European Green Deal tatsächlich umsetzen. Mehr Geldmittel sind zudem nötig, um in einem gemeinsamen Binnenmarkt, der aktuell zusätzlich unter den Auswirkungen der Corona-Krise leidet, gleichwertige Lebensverhältnisse effektiv voranbringen zu können. Die EU-Mitgliedstaaten blockieren sich hierbei jedoch allzu oft gegenseitig. Die Nettozahler und -empfängerdebatte belastet das solidarische Miteinander massiv. Eine EU-Steuer oder deutlich höhere Beiträge würden dieses Problem nachhaltig lösen. Die EU könnte mit einer solchen Regelung autonomer handeln und so aus der Logik herausgelöst werden, dass sie nur in dem Maße funktioniert, in dem die Mitgliedstaaten mit ihrer Kompetenz-Kompetenz es wollen. Es ist deshalb wichtig, dass sich der Rat der EU und Europäische Rat auf den europäischen Mehrwert des Haushalts und europäischer Politik besinnen.

Ausbaufähig: Demokratie, Jugend, Transparenz und Visionen

In einigen Bereichen hätten wir uns dennoch größere Ambitionen und ein Mehr an Visionen gewünscht – auch wenn natürlich klar ist, dass eine Ratspräsidentschaft die Mitgliedstaaten hinter sich einen und nicht spalten darf.

Offen bleibt beispielsweise, wie stark sich die Bundesregierung für mehr Transparenz der Ratsverhandlungen einsetzen wird, um auch hier eine europäische Öffentlichkeit zu fördern. Auch fallen, mit Blick auf die Probleme bei dem Spitzenkandidatenprinzip nach der Europawahl 2019, die Ziele und Mittel zur Stärkung der europäischen Demokratie – unter besonder Berücksichtigung und struktureller Einbeziehung der Jugend – zu kurz aus.

Letzteres sollte dann vor allem im Kontext der Konferenz zur Zukunft Europas, für die sich auch die Bundesregierung einsetzen will, angegangen werden. Eine solche Konferenz, vorausgesetzt ihr und ihren Ergebnissen wird das nötige Gewicht verliehen, bietet die Chance, die EU im Ganzen um einen großen Schritt nach vorne zu bringen – notwendige institutionelle Reformen anzustoßen ist damit längst überfällig. Eine signifikante Stärkung des Europäischen Parlaments etwa, Kompetenzerweiterungen für Europäische Institutionen und eine Umstellung vom Einstimmigkeitsprinzip auf Mehrheitsentscheidungen in allen Bereichen, böte die Möglichkeit, strukturelle Unzulänglichkeiten, die die EU bislang in ihrer Handlungsfähigkeit hemmen, zu beheben.

Das Programm hat unsere Unterstützung, kritische Begleitung und Erinnerung an mutige, große Reformen als nächsten Schritt

Als zivilgesellschaftliche Organisation und überzeugte Europäer*innen werden wir die Bundesregierung bei der Umsetzung ihres insgesamt positiven Programms unterstützen und begleiten. Wir werden uns dafür einsetzen, dass sie in den kommenden sechs Monate und den Monaten der Trio-Präsidentschaft nicht hinter ihren eigenen Ansprüchen zurückzufallen wird. Wir hoffen, dass jeder einzelne Minister und jede Ministerin sich dieses Programm zu eigen macht und in ihrem Wirkungsbereich uneingeschränkt  dafür einsetzt. Als europaweit aktive Befürworter*innen der Vereinigten Staaten von Europa werden wir die Bundesregierung mit unseren Aktivitäten dabei unterstützen, eine neue Einheit in Europa zu forcieren und die europäische Integration gerade auch im Kleinen voranzubringen.

Europa geht besser zusammen – von den Mitgliedstaaten bis hin zu jeder und jedem Einzelnen in Europa. Wir hoffen, dass die Bundesregierung, auch nach der Bundestagswahl 2021, spätestens zum Ende der Trio-Ratspräsidentschaft und in einem dann hoffentlich wieder nachhaltig geeinten Europa, auf unserer Seite sein wird, auch die nötigen großen, mutigen Reformen der EU dann anzugehen.

Den Kommentar im Original auf der JEF-Website.