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  • 01.06.2011 - 08:54 GMT

Ostsee-Netzwerk diskutiert Auswirkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit am deutsch-polnischen Beispiel

Zum 1. Mai 2011 hat Deutschland nach sieben Jahren Übergangszeit als letztes Land seinen Arbeitsmarkt für Bürger der 2004 beigetretenen EU-Mitgliedsstaaten geöffnet. Führt die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einem Anstieg der Einwanderer in Deutschland? Und was sind mögliche Anreize für einen polnischen Arbeitnehmer, nach Deutschland zu kommen?

Diese Fragen diskutierten rund 60 Vertreter von Interessengruppen und Verwaltung unter dem Dach des Ostsee-Partnerschaftsnetzwerkes von EBD, Auswärtigem Amt und Handelskammer Hamburg. Gast des Abends war Prof. Dr. Józef Olszyński, Vorstandsvorsitzender der polnischen Agentur für Auslandsinvestitionen.
Gastgeber Dr. Jacek Robak, Gesandter und Leiter der Abteilung für Handel und Investition der polnischen Botschaft in Berlin, betonte in seiner Begrüßung, wie wichtig die vergangenen 20 Jahre zwischen deutsch-polnischem Nachbarschaftsvertrag und Arbeitnehmerfreizügigkeit für Polen gewesen seien. Insgesamt könne man eine positive Bilanz ziehen: Deutschland ist Wirtschaftspartner Nummer eins, und das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Polen ist größer als das zwischen Deutschland und Spanien bzw. Russland. Investitionen seien zudem keine Einbahnstraße mehr: Polnische Firmen, und hier vor allem mittelständische Unternehmen, investieren zunehmend in Deutschland.
Für beide Länder wird es ein spannendes Jahr werden, prognostizierte EBD-Generalsekretär Bernd Hüttemann in seinem Grußwort. Während Polen zum 1.Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, tritt Deutschland gleichzeitig den Vorsitz im Ostseerat an. Die Kooperation zwischen beiden Ländern könne viel bewirken. Das Ostsee-Netzwerk könne in diesem Rahmen vor allem ein Ideenraum sein, in dem einzelne Themen herausgegriffen und vertieft werden können.
Welche Potenziale und Herausforderungen auf Deutschland und Polen, aber auch auf die anderen Ostseeanrainer im Bereich „Demografie und Arbeitsmarktintegration“ warten, stellten Dr. Max Steinhardt und Jan Wedemeier, Forscher am Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut (HWWI) und Autoren der vom Ostsee-Netzwerk in Auftrag gegebenen Studie „Zukunft Ostseeraum“, vor. Das Arbeitsangebot im Ostseeraum werde vor allem durch demografische Faktoren wie eine sinkende Geburtenrate und gestiegene Lebenserwartung bestimmt. Dadurch altere die Gesellschaft, die Bevölkerungszahlen im gesamten Ostseeraum mit Ausnahme von Skandinavien sinken insbesondere in der für die Erwerbsquote wichtigen Altersgruppe 15-44 Jahre besonders stark. Welche Auswirkungen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auf Polen und Deutschland habe, sei jetzt noch nicht klar festzustellen: Einerseits habe Deutschland bereits 2007 seinen Arbeitsmarkt für Akademiker und Ingenieure aus Polen geöffnet, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit bestünden zudem seit 2004 – ohne dass eine signifikant hohe Zuwanderung die Folge sei. Viele Auswanderungswillige seien zudem bereits in andere Länder – allen voran Großbritannien und Irland, die ihre Arbeitsmärke deutlich früher geöffnet hatten – migriert. Chancen für Deutschland lägen vor allem in der Zuwanderung von Fachkräften („brain gain“) sowie der Abschwächung demographischer Trends. Ein Risiko hingegen besteht in möglichen Lohneffekten für deutsche Arbeitnehmer. Chancen für Polen sahen Steinhardt und Wedemeier in der Rückwanderung von Migranten nach Polen („brain circulation“) und in Rücküberweisungen an die Familie im Heimatland.
Olszyński begrüßte die Liberalisierung der Arbeitsmärkte nach den Jahren deutscher Abschottung. Von einem gemeinsamen Arbeitsmarkt könne man aber trotzdem nicht sprechen. 2004 hätten die neuen EU-Mitgliedsstaaten vor allem bei den Dienstleistungen komparative Vorteile gehabt. Die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland kam jedoch zu spät. Entsprechend werde sie auf die Migration aus Polen genauso wenig Auswirkungen haben wie die Einführung der Visafreiheit und der Beitritt Polens zum Schengen-Raum. Bereits vor dem 1. Mai 2011 war die Migration von Polen nach Deutschland, die über Saisonarbeit hinausging, relativ gering. Neben natürlichen Barrieren wie Sprachschwierigkeiten spiele hier vor allem das – durch die zweimalige Verlängerung der Übergangsregelungen für Deutschland verursachte – Gefühl eine Rolle, nicht willkommen zu sein. Besonders für die mittlere Führungsebene in Polen seinen Großbritannien und die USA als Auswanderungsziele interessanter als Deutschland. Eine Veränderung sei in den vergangenen Wochen allerdings deutlich zu beobachten gewesen, fügte Olszyński augenzwinkernd hinzu: Der Zuzug deutscher Arbeitnehmer nach Polen habe sich in dieser Zeitspanne stark erhöht.
In der anschließenden Diskussion wurde ergänzend angemerkt, dass neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch das Entsendegesetz und die Dienstleistungsrichtlinie Beschäftigungsmöglichkeiten für Migranten bieten, die von der Statistik nicht eindeutig erfasst würden und zu Lohndumping führen könnten. Hier bestehe politischer Handlungsbedarf, um „schwarze Löcher“ möglichst schnell zu stopfen.
Die nächste Veranstaltung unter dem Dach des Ostsee-Netzwerkes findet am 27. Juni statt. Gastgeber ist das Auswärtige Amt: Gemeinsam mit Staatsminister Werner Hoyer und dem Sonderbotschafter der Bundesregierung für die Ostseeratspräsidentschaft werden Herausforderungen und Ziele Deutschlands im Hinblick auf die EU-Makroregion gemeinsam mit allen Interessierten diskutiert.

Weitere Informationen zum Ostsee-Netzwerk finden Sie hier.

EBD-Dossier zum Thema Arbeitnehmerfreizügigkeit