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  • 07.02.2012 - 10:57 GMT

VIER PFOTEN: Paradigmenwechsel europäischer Tierschutzpolitik

Die EU-Kommission hat eine neue Strategie verabschiedet, durch die der Tierschutz in der EU weiter vorangebracht werden soll. Einige der neu enthaltenen Aspekte sind positiv zu bewerten, schreibt Marlene Wartenberg von der internationalen Tierschutzorganisation Vier Pfoten in einem Standpunkt auf EurActiv.de. Allerdings greife die Strategie an kaum einer Stelle gesamtgesellschaftliche Entwicklungen auf.

Die EU-Kommission setzt ihre horizontale Tierschutzpolitik im Anschluss an den Aktionsplan Tierschutz (2006-2010) fort. Die am 19. Januar 2012 von EU-Kommissar John Dalli vorgestellte Tierschutzstrategie (2012–2015) bedeutet allerdings eine Abkehr der bisherigen Praxis eines – eher gestaltenden – Fünfjahresplans mit einzelgesetzlichen Bestimmungen zu Tierarten und Nutzungen, hin zum eher operativen politischen Management bestehender Regelungen und Schaffung eines rechtlichen Rahmens.
Strukturelle Verlagerung der Zuständigkeiten
Einige der neu enthaltenen Aspekte sind positiv zu bewerten wie etwa die Hervorhebung der Bildung und Erziehung sowie der Informationsvermittlung, die Verbesserung des Vollzugs und die internationale Anbindung des Tierschutzes in der EU. Der Ansatz der Tierschutzstrategie zur  künftigen Gesetzgebung verlagert gleichzeitig strukturell die politische Verantwortung überwiegend auf die Ebene der Mitgliedstaaten unter dem Dach eines zwangsläufig allgemeinen EU-Tierschutzrahmengesetzes. Dies kann aufgrund bisheriger Erfahrung die erforderliche Wirksamkeit des Schutzgutes Tier als fühlendes Wesen gerade nicht sicherstellen und bedeutete eine gewisse Roll back Politik einer im Tierschutz ermüdeten EU. Angesichts der soeben angekündigten Vertragsverletzungsverfahren gegen 13 Mitgliedstaaten wegen Nichteinhaltung des seit 12 Jahren bekannten Käfigverbotes überrascht diese Kompetenzverschiebung der Tierschutzstrategie umso mehr.  
Qualitative Verbesserung bestehender Regelungen
Im Einzelnen ist positiv zu werten, dass ein Europäisches Tierschutzrahmengesetz mit entsprechend präzisen Ausführungsbestimmen mit hohen Standards und effizienten Kontrollen das erwähnte  Ungleichgewicht teilweise kompensieren könnte. Die Berücksichtigung der Allgemeinen Bestimmung Tierschutz (Art. 13 VAEU) als politische Verpflichtung auch für die Mitgliedstaaten seit Inkrafttreten des Lissabon Vertrages ist ein wichtiges Signal von der EU Kommission. Die Forderung erheblicher Verbesserungen für den Vollzug bestehender Bestimmungen  – eine qualitative Vertiefung des Tierschutzes – ist zu begrüßen.
Neue Ansätze – neue Handlungsfelder
Potenzial wird in der Tierschutzstrategie durch erweiterte europapolitische Handlungsfelder gesehen wie etwa die Nachbarschaftspolitik der EU. Eine mögliche Perspektive für den Heimtierschutz auf der Basis von Forschungsprojekten für das EU Rahmengesetz beseitigt ein politisches Defizit. Die Planung eines professionellen Informationsnetzwerkes für alle Zielgruppen und der Schwerpunkt von Erziehung und Bildung mit verbindlicher Einbindung in berufliche Ausbildungszweige ist ohne jede Einschränkung als nachhaltig wirksamer Ansatz zu begrüßen. Der Verbraucher wird in der Strategie angesprochen und erfreulicherweise wird zumindest die Möglichkeit der Kennzeichnung von Fleisch, das von nicht betäubten Schlachttieren stammt, erwähnt.
Adressat des  Art. 13 VAEU: die EU und die Mitgliedstaaten  
Eher kritisch zu sehen ist, dass sich die Tierschutzstrategie als pragmatisches operatives Arbeitsdokument der EU-Kommission erweist. Zwar werden in der Strategie einige positive Perspektiven aufgezeigt und die Bedeutung des Tierschutzes im Lichte des Art. 13 VAEU aufgegriffen, doch das Ende einzelgesetzlicher Bestimmungen für einzelne Tierarten und die damit verbundene Verlagerung der politischen Entscheidungsprozesse von den EU-Institutionen mehr auf die Ebene der Mitgliedstaaten wird zu einer Flexibilisierung von Tierschutzvorschriften führen und absehbar unter Zugrundelegung der unterschiedlichen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten zu Lasten hoher Tierschutzstandards.
Fragliches Ende eines gesamtgesellschaftlichen Tierschutzdialogs in der EU
Die Strategie greift an kaum einer Stelle gesamtgesellschaftliche Entwicklungen auf – mit Ausnahme des neu eingeführten Anliegens des Heimtierschutzes. Das bedeutet, dass gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die bestimmte Tiernutzungen kritisch sehen, wie zum Beispiel das Klonen von Nutztieren zu Ernährungszwecken, unberücksichtigt bleiben. Mehr noch, für diese Themen wird es künftig vermutlich keinen europäischen legislativen (ethischen) Dialog mehr geben.
Eine voreilige Strategie: landwirtschaftliche Nutztiere haben das Nachsehen
Bedauerlich ist das "Einfrieren" des spezialgesetzlichen status quo. Milchkühe, Mastrinder, Schweine und Mastkaninchen werden keine neuen gesetzlichen höheren Haltungsstandards erhalten, ebenso wenig wie Großgeflügel und Wildtiere. Wildtiere in privater Haltung könnten bestenfalls über eine angedeutete EU-Heimtierregelung Schutz finden.
Meinungsbildung im Europarlament
Als nächster Schritt werden sich die Europaabgeordneten zur Tierschutzstrategie der EU Kommission  positionieren. Hier sind Tierschutzorganisationen als Repräsentanten der Zivilgesellschaft gefragt, um den gesamtgesellschaftlichen Dialog zur Tierschutzstrategie zu führen, dies unabdingbar mit zunehmender wirtschaftlicher und rechtlicher Fachkompetenz, um den Tieren als fühlende Wesen wirksam eine Stimme zu verleihen.