ZdK: Das Kreuz bleibt – Europa wandelt sich
Das Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Lautsi vs. Italien hatte 2009 wahre Proteststürme in ganz Europa ausgelöst.
Der Gerichtshof hatte in der Anbringung von Kreuzen in öffentlichen Schulen einen Verstoß gegen Art. 2 Protokoll Nr. 1 (Recht auf Bildung) sowie Artikel 9 (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) gesehen. Am Revisionsverfahren vor der Großen Kammer beteiligte sich auch das ZdK – und bekam im Urteil des EGMR vom 18. März recht.
Angestoßen durch eine Debatte in der ZdK-Vollversammlung wurde die Idee einer Drittintervention im europäischen Laien-Netzwerk Initiative Christen für Europa (IXE) sowie mit dem Kommissariat der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin eingehend diskutiert. Während der Gedanke bei IXE unmittelbar positive Resonanz fand, bestanden von Seiten der Deutschen Bischofskonferenz zunächst Vorbehalte, da man negative Auswirkungen auf die deutsche Rechtslage fürchtete.
Gründe
Vor allem vier Erwägungen gaben schlussendlich den Ausschlag zugunsten der Drittintervention des ZdK im europäischen Laienverbund:
In dem Verfahren ging es letztlich um mehr als „nur“ das Anbringen von Kreuzen in Schulen. Dahinter verbarg sich vielmehr die Frage nach der Prägekraft des Christentums und seiner Präsenz im öffentlichen Raum unserer Gesellschaften in Europa.
Eine Stellungnahme von christlicher Seite war nötig, um dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verdeutlichen, welche theologische Bedeutung das Kreuz hat und welche Botschaft von ihm für Christen ausgeht – und auch für Nicht-Christen ausgehen kann. Dies war insofern bedeutsam, als die italienische Regierung versucht hatte, das Kreuz als rein kulturelles Traditionssymbol zu verharmlosen.
Um glaubwürdig zu verdeutlichen, dass die Präsenz von Kreuzen ein Grundanliegen vieler christlicher Bürger in ganz Europa ist, schienen zum einen Laienorganisationen eher berufen als die Amtskirche selbst. Zum anderen war zu erwarten, dass eine pan-europäische Stellungnahme repräsentativer Organisationen aus der Mitte der Gesellschaft mit eindeutigem Bekenntnis zur europäischen Integration eine größere Wirkung entfalten würde. Den zu erwartenden ultrakonservativen Kräften durfte man nicht das Feld überlassen.
Begründung
Der Schriftsatz von europäischen Katholiken brachte besonders die folgenden Argumente vor:
Dem Kreuz kommt eine plurale Bedeutung zu: zum einen als Emblem christlich geprägter Kultur und Tradition, vor allem aber als zentralem religiösen Symbol des Christentums, das Werte wie Menschenwürde und Toleranz versinnbildlicht – Werte also, die denen der Menschenrechtskonvention entsprechen, ja ihr zugrunde liegen.
Das Anbringen von Kreuzen ist ein passiver Akt, der weder einer indoktrinierenden Missionierung gleichkommt noch dazu angetan ist, Schüler emotional zu verstören oder am kritischen Denken zu hindern, wie im Kammer- urteil angeklungen war.
Europa zeichnet eine große religiöse und kulturelle Vielfalt sowie eine enorme Diversität an Staats-Kirchen-Verhältnissen aus. Daher ist ein nationaler Ermessensspielraum unabdingbar, innerhalb dessen die Vertragsstaaten einen angemessenen Ausgleich finden können: zwischen verschiedenen Grundrechtspositionen, aber auch zwischen den Rechten Einzelner und dem legitimen Interesse des Gemeinwesens, seine eigene religiöse Wertegrundlage zu pflegen, gerade damit ein respektvolles Miteinander der Kulturen in der modernen Gesellschaft dauerhaft gelingt („diversity management“).
Aus der negativen Religionsfreiheit folgt kein Recht auf Nicht-Konfrontation mit religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit.
Das Urteil der Großen Kammer
Mit bemerkenswerter Klarheit revidierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein Urteil von 2009. Vor allem betonte er den Ermessenspielraum der Mitgliedstaaten: Ihnen bleibt weiterhin überlassen, welchen Stellenwert sie der Religion auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts beimessen, solange ein religiöser Pluralismus gewahrt bleibt und keine religiöse Indoktrination stattfindet. Eine solche konnte der Gerichtshof nicht erkennen. Dabei anerkannte er das Kreuz ausdrücklich als zuvörderst religiöses Symbol.
Bedeutung des Urteils
Das Urteil stellt eine eindeutige Absage an die problematischen Aussagen der Kammer dar. Äußerst bedeutsam dabei: Es ist – anders als viele andere Grundsatzurteile – von einer breiten Mehrheit der Richter (15:2) getragen. Dies lässt keine Infragestellung der Entscheidung in nächster Zukunft erwarten. Bemerkenswert ist der „self-restraint“ des Gerichtshofs gegenüber den Vertragsstaaten unter Hinweis auf die große Vielfalt und den fehlenden Konsens in Europa über die Präsenz religiöser Symbole in Schulen. Hier hatte er ersichtlich die politische Akzeptanz der Europäischen Menschenrechtskonvention im Auge; das verbreitet kritische öffentliche Echo auf das Kammerurteil hatte also seine Wirkung ebenso wenig verfehlt wie die Drittinterventionen von 10 Staaten und eben auch von ZdK/SSF/ACLI. Aus juristischer Perspektive ist weiter interessant, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – anders als die meisten nationalen Gerichte, so auch das Bundesverfassungsgericht im bayerischen Kruzifixstreit – es vermeidet, das Schulkreuz überhaupt als Grundrechtseingriff zu werten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte respektiert also die europäische Vielfalt im staatlichen Umgang mit Kirchen und religiösen Symbolen. Das lässt den nötigen Raum für die historisch gewachsene, gegenüber den Kirchen wohlwollende, fördernde Neutralität des deutschen Staates ebenso wie für strikte Laizitätsmodelle wie z. B. in Frankreich.
Nichtsdestoweniger wird auch in Deutschland die gesellschaftspolitische Debatte um den rechten Umgang mit Religion an sich und mit nicht-christlichen Religionen in der Öffentlichkeit weitergehen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erkennt an, dass die Bewahrung christlichen Erbes und weltanschaulicher Pluralismus sich nicht ausschließen, sondern ergänzen können. Doch wie vor kurzem der tschechische Theologe Tomáš Halík ganz richtig sagte, macht die Präsenz des Kreuzes allein Europa nicht christlicher.
Ermutigung und Auftrag für Christen
Welche Bedeutung hat das Urteil für die Zukunft angesichts des gesellschaftlichen Wandels hin zu pluraleren, individualistischeren Gesellschaften und angesichts von Glaubens- und Kirchenkrise? Trotz oder gerade infolge der Säkularisierung und bedingt durch die Auseinandersetzung mit einer stärkeren islamischen Präsenz hat Religion in der öffentlichen Diskussion an Bedeutung hinzugewonnen (religiöse Bekleidungsvorschriften, Moscheebauten, Sonntagsschutz, Schutz religiöser Minderheiten etc.), rekurrieren zugleich Kirchen und Politik immer häufiger auf das jüdisch-christlich Erbe Europas als Fundament des demokratischen Rechtstaates und der Werte, für die er steht. Astrid Reuter von der Universität Münster spricht hier von „nachholender Identifikation mit dem christlichen Erbe“.
Wir dürfen jedoch nicht in eine Haltung verfallen, die sich in kulturell-religiöser Traditionspflege und Beschwörung des christlichen Erbes im Sinne einer musealen Vergangenheit erschöpft. Wir dürfen auch nicht unsere europäische Identität in Ab- und Ausgrenzung anderer Religionen und Weltanschauungen sehen. Vielmehr ist unser aktives und glaubwürdiges Zeugnis, das Ernstnehmen der Botschaft, die vom Kreuz ausgeht, gefordert – die auch eine anstößige, unbequeme, provozierende Botschaft ist, die immer wieder Weiterentwicklung und Erneuerung verlangt. In diesem Sinne dürfen wir uns nicht nur über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte freuen, und dies zu Recht, sondern müssen es auch als Mahnung und Auftrag begreifen – dazu verpflichtet uns unser christliches Erbe!
Autoren: Clemens Ladenburger und Sigrid Schraml