Aktuelles > „Zukunft ist kein Schicksal“ | Rede der neuen EBD-Präsidentin Dr. Linn Selle auf der EBD-MV 2018

Artikel Details:

Europäische Wertegemeinschaft

„Zukunft ist kein Schicksal“ | Rede der neuen EBD-Präsidentin Dr. Linn Selle auf der EBD-MV 2018

Am 02. Juli fand die diesjährige EBD-Migliederversammlung statt, die Delegierte der 244 Mitgliedsorganisationen zusammenbrachte, um einen neuen Vorstand zu wählen und die neuen Politischen Forderungen abzustimmen. Neue Präsidentin des Vorstands ist die promovierte Politologin Dr. Linn Selle. Ihre Rede zur Bewerbung für das Amt lesen Sie hier:

EBD-Präsidentin Dr. Linn Selle Foto: Katrin Neuhauser

„Liebe Vertreterinnen und Vertreter der EBD Mitgliedsorganisationen,
Liebe Freunde, Kolleginnen, Verbündete für ein demokratisches, wirkmächtiges Europa,
Dear Eva Maydell, president of the European Movement International, I deeply value you coming here today,
Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich sehr, heute hier vor Ihnen und vor Euch zu stehen.
Vor etwas mehr als einem Monat feierte die Europäische Bewegung International ihren 70-jährigen Geburtstag, das 70. Jubiläum des Haager Kongresses. Was forderte der Haager Kongress im Jahr 1948?

Die Zeit sei reif, einen Teil der nationalstaatlichen Souveränität abzugeben, um wirtschaftliche Prosperität und sozialen Fortschritt zu erreichen. Man müsse Sozialstaat und Demokratie schaffen, um das Wohlergehen der europäischen Bürgerinnen und Bürger zu schützen, um gegen Autoritarismus jeder Form zu wirken.

Ohne der Diskussion unserer Politischen Forderungen vorweggreifen zu wollen: Auch heute spiegeln unsere Werte und Forderungen die Grundwerte unserer Gründerväter (und immerhin zweier Gründermütter) merklich und nachhaltig wider. Doch es sind andere Zeiten: Anstatt Aufbruch und Vision, dem Blick hin zu einer künftigen post-nationalen Ordnung, geht es heute leider immer öfter um ängstliche Defensive: um das Bewahren des Erreichten, um das Vermeiden von Rückschritten. Rückschritte in demokratischer Organisation, Rückschritte in rechtsstaatlicher Ordnung, Rückschritte im Willen zur Völkerverständigung und Kompromissfindung zwischen europäischen Staaten.

Das sind heute aber keine klaren geographischen Debatten mehr, wie sie im Jahr 1948 den Haager Kongress und die Teilung Europas in Ost und West prägten. Diese Risse gehen heute durch all unsere Gesellschaften, von Estland bis Spanien, von Irland bis Bulgarien.

Also: Die See ist rauer geworden, aber das Schiff Europa ist dennoch weit davon entfernt unterzugehen. Ausgerechnet der von uns wahrlich nicht gewünschte Brexit hat in den Meinungsumfragen europaweit zu einem deutlichen Umschwung in der Einstellung zur europäischen Integration geführt. Mehr noch: Die Europafahne wurde in den vergangenen Jahren gerade in den Ländern, wo nationale Regierungen versagen, korrupt sind oder Menschenrechte verletzen, zum Symbol einer pluralistischen Demokratie. Der Sternenkranz – die Trikolore der Freiheit und Demokratie!

Aber die Menschen auf der Straße und in Meinungsumfragen brauchen Lautsprecher und Vermittlerinnen/Vermittler. Die Europäische Bewegung wird als europäischer Kit der gesellschaftlichen Kräfte mehr denn je europaweit gebraucht. Die Vielfalt der Herausforderungen machen ein „Europa der Vielen“ notwendiger denn je. Nationale Regierungen und EU-Institutionen können und dürfen wir nicht alleine machen lassen.
„Zukunft ist kein Schicksal“ sagte unser Bundespräsident bei seiner Weihnachtsansprache im vergangenen Jahr. Wir alle tragen mit großen und kleinen Entscheidungen dazu bei, wie unsere Gesellschaft, das Schiff Europa in einer Dekade aussehen wird. Derzeit macht mir persönlich die schleichende Unterwanderung europäischer Werte und die teils lautstarke Faszination für autoritär anmutende Regierungsstile in einigen EU-Mitgliedsstaaten große Sorge. Aber: „Zukunft ist kein Schicksal“, wir alle haben es in der Hand. Wir alle müssen unseren Beitrag zu einem geeinten, toleranten, demokratischen Europa leisten.

Das muss auch Auftrag an die Europäische Bewegung sein: Wir sind nichts ohne sie alle hier im Raum. Unsere Mitgliedsorganisationen, die sich in der EBD organisieren, die ihre Positionen einbringen, unser Netzwerk stärken und Europapolitik gestalten. Die Europäische Bewegung muss diese vielfältigen gesellschaftlichen Kräfte bündeln. Wir müssen Inkubator für neue Ideen und für einen gesellschaftlichen Europa-Konsens sein. Und die EBD muss ein Lautsprecher sein. Lautsprecher für ein demokratisches, vereintes und pluralistisches Europa.

Im Rahmen unserer so vielfältigen Organisationen wünsche ich mir, dass wir eine gemeinsame Richtung finden, die mehr ist als nur der kleinste gemeinsame Nenner. Geleitet durch unser gemeinsames Ziel, dass das europäische Projekt nur dann Erfolg haben kann, wenn wir alle an einem Strang ziehen, wenn wir gemeinsam von vielen Seiten Druck ausüben.

Und apropos Druck ausüben: Ich bin überzeugt, die EBD muss an entscheidenden Stellen bewusst widerborstig sein. Wir sind überzeugt von Europa, wollen das europäische Projekt weiterentwickeln und weiter zu demokratisieren. Das macht uns aber nicht zu Jubeleuropäerinnen. Der EBD und unserer politischen Glaubwürdigkeit wird eine Prise Widerborstigkeit gut tun. Denn Europapolitik wird ohne glaubwürdige Kritik – und kluge Verbesserungsvorschläge! – nicht ernst genommen. Unser Präsident Rainer Wend weiß, was ich meine, denn er hat in den letzten Jahren über alle Parteigrenzen hinweg erfolgreich den Finger in die Wunde gelegt, ohne den Blickkontakt zu Vorstand und den Mitgliedern zu verlieren. Etwa bei der Kritik der strukturell wahrlich schlecht aufgestellten Europakoordinierung der Bundesregierung. Das hat nicht jedem gefallen – und das ist auch gut so!

Ich verspreche Ihnen, als Präsidentin werde ich im Sinne unserer Werte und unserer politischen Forderungen überparteilich und offen Engstirnigkeit, Kurzsichtigkeit und Eigennutz anprangern. Die Stimme der Präsidentin muss, wie schon bei meinen Vorgängerinnen und Vorgängern, schnell klar und wirkmächtig vernehmbar sein. Denn was immer an Eigennutz dem europäischen Gemeinnutz schadet, muss unmittelbar auf den Tisch. Subsidiarität ist auch für mich ein hohes Gut, denn im ursprünglichen Sinne steht es dafür, dort Politik erfolgreich zu machen, wo sie am besten den Menschen dient. Subsidiarität ist keine Einbahnstraße zum Dorfplatz, Subsidiarität führt an den richtigen Stellen auch zu „mehr Europa“.

Gelegenheit zur Stellungnahme werde ich genug haben: Die beginnenden Verhandlungen zum neuen EU-Haushalt, dem Mehrjährigen Finanzrahmen, sind eine wichtige Wegmarke. Sie werden zeigen, inwieweit die Mitgliedsstaaten bereit sind, sich dem europäischen öffentlichen Gut zu verschreiben. Gleiches gilt für die Fragen einer Reform der EU-Entscheidungswege und der Wirtschafts- und Währungsunion, wie sie etwa von der EU-Kommission, dem französischen Präsidenten Macron angemahnt wurden, die aber gleichwohl beim Europäischen Rat nur in kleinsten Trippelschritten vorangingen.

Auch wenn derzeit viele wichtige Entscheidungen im Kreise von Staats- und Regierungschefs getroffen werden, die Europawahl im kommenden Jahr ist eine wichtige Wegscheide. Wird das EP handlungsfähig bleiben? Werden proeuropäische Parteien weiterhin die Mehrheit im Parlament haben? Hier sind natürlich zuallererst die Parteien gefragt, aber auch wir alle in unseren Organisationen, um die Europawahl für eine wirklich europäische politische Debatte zu nutzen.

Und fraglos wird auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 ihre Schatten voraus werfen. Hier muss sich die EBD für eine breite Beteiligung der gesellschaftlichen Kräfte einsetzen.

„Zukunft ist kein Schicksal“: Wann, wenn nicht heute ist es an der Zeit unsere vielfältigen Einzelinteressen zu bündeln, um die europäische Idee zu bewahren und zu stärken. Es liegt an jeder und jedem von uns, einen Teil zu einer besseren Gesellschaft, zu einem weiterhin starken und vereinten Europa beizutragen. Ich würde mich freuen wenn Sie mir die Gelegenheit geben, dies als Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland zu tun.“

Lesen Sie Dr. Selles Rede als EU-in-BRIEF hier.